Mit dem Schlemmen, also dem guten Essen und Trinken, ist das so eine Sache. Die Literatur ist voll davon, abstruse Kochshows bevölkern das Fernsehen und doch bleibt die Kulinarik (auch ohne die aktuellen Lebensmittelpreise) in einer ominösen Wolke – das richtig Feine ist halt nur was für die richtig Reichen. Der Pöbel weiß ja noch nicht mal, wie man eine Auster richtig öffnet. Aber Moment – ist in einigen Gegenden Irlands die Auster nicht der klassische Kneipensnack? Serviert mit Brown Bread und – natürlich – Guinness? Und so schwer sind die Dinger nun auch nicht aufzumachen. Aber müssen es eigentlich unbedingt Austern sein?
In einer neuen Kolumne wird Arnold Schölzel an dieser Stelle einmal im Monat der Frage nachgehen, warum auch für uns das Essen mehr ist als „Ohne Mampf kein Kampf“ und warum man das Schlemmen auf gar keinen Fall der Bourgeoisie überlassen darf.
In den „Flüchtlingsgesprächen“ lässt Brecht etwa 1940 den Physiker Ziffel bei einem „Bier, das kein Bier war“, im Bahnhofsrestaurant von Helsingfors sagen: „Die Deutschen haben eine schwache Begabung für den Materialismus … Die Vertreter des Diesseits, hagere und bleiche Gestalten, die alle philosophischen Systeme kennen; die Vertreter des Jenseits, korpulente Herren, die alle Weinsorten kennen.“
Im Großen und Ganzen stimmt das noch immer und es macht einen Teil des geistigen Elends aus, in dem der Kapitalismus dämmert. Eigene Weinberge und vorzügliche Gewächse besitzen die beiden großen christlichen Kirchen und der deutsche Kardinal, der mit Nachnamen Marx heißt, sieht aus wie von Ziffel beschrieben.
Kommunisten bleiben bei solchen Zuständen unter Winzern und Weinkennern unterrepräsentiert, können sich aber auf Vorbilder berufen: Der Trierer Karl Marx wuchs mit Familienweinbergen auf, stritt für die verarmten Moselwinzer, saß wegen allzu großen Durstes im Karzer der Bonner Uni und eher selten wird von ihm zitiert: „Mehr als aller Medizin verdanke ich dem Bordeaux.“
Nicht anders Friedrich Engels, der im Album von Marx’ Tochter Jenny 1868 als „Auffassung von Glück“ bekannte: „Château Margaux 1848“. Er schickte von Manchester öfter Weinkisten an die Marxens in London und so schrieb ihm zum Beispiel am 17. Januar 1870 Jenny von Westphalen: „Selten ist wohl ein hamper (Korb) so à propos (zur rechten Zeit) gekommen als der gestrige. Die Kiste war eben ausgepackt, und die 50 schlanken Männer standen in Reih und Glied in der Küche, als Dr. Allen und sein Partner, ein junger schottischer Doktor, kamen, um den armen Mohr zu operieren, so dass gleich nach der Operation der Mohr mit seinen 2 Äskulapen sich an dem köstlichen Brauneberger stärken konnte.“ Die „Brauneberger Juffer Sonnenuhr“ in den typischen Moselweinflaschen rangiert auch heute unter Spitzenweinen.
Exemplarisch war der Brief, in dem Engels am 1. Dezember 1890 Laura Lafargue von der Feier seines „runden“ Geburtstages berichtete: „Wir hielten durch bis um halb vier morgens und tranken außer Claret 16 Flaschen Champagner – am Morgen hatten wir 12 Dutzend Austern verzehrt … Man kann seinen 70. Geburtstag nur einmal feiern.“
Marx und Engels war allerdings einer überlegen: Der als Idealist geltende Georg Wilhelm Friedrich Hegel, dem Ziffel „das Zeug zu einem der größten Humoristen unter den Philosophen“ bescheinigte. Den Witz einer Sache habe er Dialektik genannt und wie alle großen Humoristen „alles mit todernstem Gesicht vorgebracht“. Auch den Idealismus. Ob das damit zu tun hatte, dass Hegel allerhand Wein und Bier trank, vielleicht noch mehr als Goethe, der es täglich auf zwei bis drei Flaschen fränkischen Wein plus Champagner gebracht haben soll, ist nicht erforscht. Behauptet wird, die Getränke seien damals dünner gewesen als heutige Weißweine, die mit 13 und mehr Prozent keine Weine, sondern Alkoholbomben sind. Allerdings ließ der Schriftsteller Otto A. Böhmer 2011 in „Hegel & Hegel oder der Geist des Weines“ ihn als „Genusstrinker“ und „Drei-Liter-Philosophen“ auftreten, der sich etwa in der Vorrede zur „Phänomenologie des Geistes“ von 1806 verraten habe: „Das Wahre ist so der bacchantische Taumel, an dem kein Glied nicht trunken ist.“ Der an jedem 14. Juli einen Champagner auf den „herrlichen Sonnenaufgang“ der Revolution öffnete und gern auf dem Pichelsberg bei Spandau mit anderen zechte. Zu Hegels Gehalt als Berliner Professor gehörte ein Fuder Bier und seine Heirat mit der Nürnberger Patriziertochter Marie von Tucher soll für regelmäßige Fasszufuhr an die Wohnung am Kupfergraben gegenüber vom heutigen Pergamonmuseum gesorgt haben.
Nach Hegel wurde verdientermaßen 1955 in Baden-Württemberg eine Rebsorte benannt. Der Spätburgunder „Hegel trocken Geradstettener Lichtenberg“ (samtig, kräftig, herb) wird im Internet ab 6,20 Euro in Literflaschen angeboten. Das lateinische „humor“ bedeutet übrigens keineswegs zufällig „Feuchtigkeit“.