Janine Wissler und Susanne Hennig-Wellsow haben einen Debattenbeitrag zur Parteistrategie vorgelegt. Der Beitrag arbeitet sich an den Versprechungen und Vorhaben der neuen Ampel-Regierung ab und behauptet gleichzeitig, dass es nicht ausreicht, „als soziales Korrektiv zu SPD und Grünen zu agieren“. „Den Kompass neu ausrichten – Aufgaben für ‚Die Linke‘ nach der Bundestagswahl“ heißt das Papier, das der Parteivorstand erst einmal wohlwollend zur Kenntnis genommen hat. Während die Vorsitzenden auf ein „Weiter-so“ setzen, kritisiert der Hochschulverband der Partei die Linie. Im Wahlkampf „sah es so aus, als ob ‚Die Linke‘ so gerne regieren wollen würde, dass ihr der Inhalt einer Koalition gar nicht mehr so wichtig ist. Rote Haltelinien und positive ‚Wendepunkte‘, wie sie im Programm eigentlich verankert sind, waren nicht klar erkennbar“.
Der Verweis auf das noch gültige Erfurter Parteiprogramm ist in den aktuellen Debatten der „Bewegungspartei“ zu einer Seltenheit geworden. Von den Programmanalysen findet sich auch wenig im Papier der Vorsitzenden. Dieses versucht stattdessen den kleinsten gemeinsamen Nenner zwischen den verschiedenen Strömungen zu finden. Leider führt das zu Wortwolken, die hinter das Programm zurückfallen. Im Stil bundesdeutscher Außenpolitik wird sich über die unteilbaren Menschenrechte in Ungarn, Belarus, der Türkei, Nicaragua, Saudi-Arabien, Syrien, Russland und China echauffiert. Deswegen müsse sich die Linkspartei auch für eine wirkliche Durchsetzung des Lieferkettengesetzes einsetzen.
Die Menschenrechtslage im eigenen Werte-Westen wird kaum angeprangert, lediglich die „US-Drohnen“ werden kritisiert. Über andauernde Ausnahmezustände in den liberalen Demokratien des Imperialismus, über das Abhängen sozialer Schichten, die sich zwischen Nahrung und Heizung entscheiden müssen oder über steigende Kriegsausgaben bei leeren Sozialkassen – kein Wort. Die Bundestagsabgeordnete Sevim Dagdelen kommentierte das Papier deswegen in der Tageszeitung „junge Welt“ wie folgt: „Eine antikapitalistische Handschrift, die auf den Zusammenhang zwischen Kapitalismus und wachsender Kriegsgefahr verweist, ist nicht erkennbar.“
Zur Mahnung des parteieigenen Ältestenrats, mindestens die Situation auf dem Gebiet der ehemaligen DDR ernst zu nehmen, äußern sich die Vorsitzenden nicht. Obwohl der Ältestenrat mahnte, „die frühere Wählerschaft unserer Partei wurde zu beachtlichen Teilen nicht mehr erreicht“, wollen die Vorsitzenden am „demokratischen Neuaufbruch 1989“ anknüpfen. Da passt es gut, dass der Berliner Bürgermeister und Kultursenator Klaus Lederer kürzlich den sechsmillionsten Besucher der staatlichen Gedenkstätte Hohenschönhausen mit einem Blumenstrauß begrüßte.
Der neue Kompass trägt die Handschrift des zwischen Katja Kippings Strömung „ema.li“ und der trotzkistischen Gruppe „marx21“ geschlossenen Bündnisses. Dieses vor Jahren gegen die alte Fraktionsführung um Sahra Wagenknecht und Dietmar Bartsch geschmiedete Bündnis stellt mittlerweile die Mehrheit im Parteivorstand. Traute Einheit von „Regierungslinken“ und „Bewegungslinken“ wird durch Verkleisterung der internen Konfliktlinien beschworen, wie aktuell die grüne Kampagne gegen den Sozialdemokraten Klaus Ernst als Vorsitzender des Bundestagsausschusses für Klima und Energie zeigt.
In eben solcher Einheit tritt aktuell der Berliner Landesverband der Linkspartei auf: Die Chefin Katina Schubert konnte stolz verkünden, dass drei Viertel der abstimmenden Mitglieder in der Hauptstadt – jedes zweite Mitglied hat mitgemacht – für den Koalitionsvertrag mit SPD und Grünen votiert haben – und damit de facto gegen das Volksbegehren „Deutsche Wohnen und Co. enteignen“. Sie sprachen sich damit für eine regierende Bürgermeisterin der SPD aus, die auch in Berlin gerne einer Ampel-Koalition vorsitzen wollte. Dabeisein scheint alles.