Die Lasten der Pandemie zahlen Alte, Arme, Frauen und Kinder – zum Teil mit ihrem Leben

Hauptsache, der Laden läuft

Man weiß gar nicht, wo man anfangen soll. Das Berliner Humboldt-Klinikum in Reinickendorf steht wegen des mutierten Coronavirus B117 komplett unter Quarantäne. Ein Dutzend Patienten und ebenso viele Beschäftigte haben sich angesteckt. Das Labor des Krankenhauses gehört allerdings zu den wenigen, die die Virus-Variante überhaupt nachweisen können. Außer dass es schwer gefährlich ist, gibt es für die Bevölkerung kaum Informationen über B117.

Der Konzern AstraZeneca kündigt an, die Lieferung seines noch nicht zugelassenen Impfstoffs um 60 Prozent zu reduzieren. Die EU bekommt Schnappatmung: „Das ist für die EU inakzeptabel“, schimpfte deren Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides am Montag. Die EU-Kommission droht Pharmafirmen mit dem Verbot von Exporten von Corona-Impfstoffen in Länder außerhalb der EU. Zeitgleich stellen Medien in Frage, ob der Impfstoff für 80-Jährige überhaupt Schutz bietet.

Der „Spiegel“ meldet, dass die Firma Biontech ihre Liefermengen angepasst habe. Nachdem jetzt jedem gelieferten Fläschchen offiziell sechs statt fünf Impfdosen entnommen werden dürfen, gibt es die Zusatzdosis natürlich nicht mehr gratis. Jens Spahn hat für 400 Millionen Euro ein Antikörper-Medikament aus den USA gekauft. Es soll schon Ex-Präsident Trump geholfen haben; zugelassen ist es noch nicht.

Die zahlreichen Live-Blogs und sich überschlagenden Meldungen, deren Wahrheitsgehalt kaum zu prüfen ist, lenken davon ab, dass von dieser Politik Menschen betroffen sind. Die Alten sterben vereinsamt in Pflegeheimen, Arme sind in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt, da sie sich keine Masken leisten können, Kindern werden Bildung und sozialer Austausch vorenthalten. Vor allem Frauen trifft die Mehrfachbelastung von Erziehung und Arbeit.

Das Land Brandenburg hat festgelegt, dass Kitas bei einem Inzidenzwert von 300 geschlossen bleiben. In Berlin mussten Eltern und Erzieher die Notbetreuung zunächst ohne feste Regeln aushandeln – mit dem Ergebnis, dass oft zu viele Kinder und zu wenig Betreuerinnen da waren. Dann hat der Senat eine Liste mit systemrelevanten Berufen erstellt. Sie ist sechs Meter lang und für den Anspruch auf Betreuung ist es ausreichend, wenn sich ein Elternteil darauf wiederfindet. Nun sind die Kitas noch voller. Hygieneregeln und Schutzmaßnahmen für die Beschäftigten lassen sich so nicht einhalten. Denn auch im Bereich der Kinderbetreuung war Personalmangel schon lange vor der Pandemie das bestimmende Thema.

Auch bei Covid-19-Erkrankungen werden die Erzieherinnen allein gelassen. Bis Ende letzten Jahres wurden laut DGB insgesamt nur 30.000 Erkrankungen als Verdachtsfall bei den Berufsgenossenschaften gemeldet. Kein Wunder, die Infizierung ist nur im Gesundheits- und Wohlfahrtsbereich als Berufskrankheit anerkannt. Die übergroße Mehrheit der Beschäftigten hat bei Erkrankung keinen Anspruch auf Leistungen der Berufsgenossenschaft. So wenig Interesse die Herrschenden an Statistiken im Zusammenhang mit Infektionen und Berufstätigkeit haben, genauso verfahren sie mit Informationen zu den Rechten von Beschäftigten. Wer sich nicht organisiert, steht dem allein gegenüber.

Die ewigen Diskussionen um Masken, Verschärfung oder Lockerung, Impfen oder nicht ermüden die Menschen und untergraben das Vertrauen in die Regierung. Letzteres wäre gut, würden die Klasseninteressen erkannt. Momentan ist die Gefahr groß, Rattenfängern in die Arme zu geraten. Es geht den Regierenden nicht um die Bekämpfung der Pandemie und nicht darum, Menschen vor einer Infektionskrankheit zu schützen. Noch nicht mal darum, das Gesundheitssystem irgendwie am Laufen zu halten. „Ich will alles tun, um zu vermeiden, dass wir die ganze Wirtschaft herunterfahren müssen“, sagt Arbeitsminister Hubertus Heil im „Handelsblatt“. Andere Ziele kann es im letzten Stadium des Kapitalismus nicht geben: Die eigene Macht erhalten und sich im Konkurrenzkampf stärken. Da sind hunderte Tote in den Pflegeheimen Kollateralschäden.

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"Hauptsache, der Laden läuft", UZ vom 29. Januar 2021



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