Deniz Poyraz unvergessen: Anhaltende Proteste nach Mord an junger Kurdin in Izmir – EU ignoriert Ausschaltung der demokratischen Opposition in der Türkei

„Hasserfüllte Atmosphäre“

In unzähligen Städten der Türkei, aber auch in Deutschland, dauern die Proteste nach der Ermordung der 38-jährigen Kurdin Deniz Poyraz an. Die junge Frau war Mitglied der vom Verbot bedrohten oppositionellen Demokratischen Partei der Völker (HDP) und ist am 17. Juni von einem den „Grauen Wölfen“ angehörenden türkischen Faschisten in der Parteizentrale in Izmir erschossen worden. Geistige Wegbereiter des Terrorakts sind der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan und seine islamistische AKP, deren Regierung von der faschistischen MHP unterstützt wird.

Deniz Poyraz spielte Geige, sie glaubte an eine bessere Welt. „Meine Tochter war immer am Lächeln, sie wollte immer Frieden. Sie war gegen Krieg, sie liebte die Menschen, sie liebte ihr Volk“, wird die Mutter Fehime Poyraz in den sozialen Medien zitiert. „Deniz ist von uns gegangen, aber Deniz wird tausendfach zurückkommen.“

HDP-Chef Mithat Sancar bekräftigte bei der Trauerfeier: „Dieser Mord, dieser Angriff, dieses Massaker hat sich vor aller Augen angekündigt. Wir haben es mit einem Bandensystem, mit der Mafia, mit einem auf Raub, Plünderung und Blut basierenden System zu tun. Die Regierung, die dieses System aufrechterhält, lebt von der Feindlichkeit gegenüber den Kurden, der Demokratie und der Freiheit.“ Die türkische Regierung habe eine „hasserfüllte Atmosphäre“ geschaffen, der Mord an Deniz Poyraz sei kein Einzelfall.

Die HDP-Kovorsitzende Pervin Buldan bekundete angesichts der enormen Anteilnahme der Bevölkerung: „Es ist dieser Anblick, der Anblick all dieser Menschen, die aus dem Gefühl der Solidarität heraus hierhergekommen sind und uns beistehen, der die demokratische Politik in der Türkei neu formieren wird.“ Es sei wichtig, gemeinsam gegen die gesellschaftliche Polarisierung Stellung zu beziehen und sich nicht als Vaterlandsverräter abstempeln und spalten zu lassen, so die HDP-Vorsitzende: „Wir empfinden heute großen Schmerz und werden jetzt eine junge Freundin in die Endlosigkeit verabschieden. Als Frauen geben wir unser Wort, dass wir das von ihr hinterlassene Erbe annehmen und ihre Fahne weitertragen werden.“

Der Oberbürgermeister von Izmir, Tunç Soyer (CHP), bekundete parteiübergreifende Solidarität: „Diese Kugel galt nicht nur der HDP und den Kurden. Sie wurde auf uns alle abgefeuert, auf unsere Geschwisterlichkeit und unsere Einheit. Wir werden nicht sterben, wir werden gemeinsam und geschwisterlich eine schöne Türkei gründen. Mein Mitgefühl gilt uns allen.“

Der noch am Tatort festgenommene Mörder Onur Gencer war im türkisch besetzten Norden des Irak von der Söldneragentur „Sadat“ ausgebildet worden. Die 2012 gegründete Agentur ist eine Art „islamistisches Blackwater“, berichtete Nick Brauns in der Tageszeitung „junge Welt“. Die Agentur sei von Erdogan zum Aufbau paramilitärischer Verbände in der Türkei und von Söldnertruppen für den Einsatz in Syrien, Libyen und im Kaukasus engagiert worden. Noch am Tag vor seinem Angriff auf die HDP-Zentrale bezeichnete der 27-jährige Gencer demnach in sozialen Netzwerken die HDP als „Brut der Armenier“.

Der Faschist, der sich in den sozialen Medien mal mit Sturmgewehr, mal mit dem „Wolfsgruß“ der „Grauen Wölfe“ präsentierte, hatte offensichtlich ein großes Massaker geplant. Dutzende Polizisten vor der HDP-Zentrale hatten den Mörder mit der Waffe in der Hand passieren lassen. Seine automatische Waffe war auf Dauerfeuer gestellt, Deniz Poyraz von sechs Kugeln getroffen worden. Für den Zeitpunkt des Angriffs war eigentlich eine Vorstandssitzung mit rund 40 Teilnehmern angekündigt, sie war erst kurz davor verschoben worden.

Der brutale Mordanschlag erfolgte nur wenige Tage vor der Einleitung des Verbotsverfahrens gegen die HDP durch die türkische Generalstaatsanwaltschaft. Am 21. Juni hatte das Verfassungsgericht in Ankara den entsprechenden Antrag auf Schließung der Partei angenommen, die bei den letzten Parlamentswahlen rund 12 Prozent der Stimmen erhalten hatte und die drittstärkste Fraktion in der türkischen Nationalversammlung bildet. Der HDP wird vorgeworfen, politischer Arm der verbotenen bewaffneten Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zu sein und Separatismus zu betreiben. Für über 450 führende HDP-Mitglieder fordern die Behörden ein mehrjähriges politisches Betätigungsverbot.

Internationale Kritik an der Ausschaltung der linken Opposition müssen Erdogan, seine islamistische AKP und die faschistische MHP nicht fürchten. Ausgerechnet am Tag der Ermordung von Deniz Poyraz probte die deutsche Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer den Schulterschluss mit dem Autokratenregime. Beim Besuch ihres Amtskollegen in Ankara betonte die CDU-Politikerin ausdrücklich, die Türkei sei ein „wichtiger Partner“. In der vergangenen Woche sagten die Staats- und Regierungschefs der 27 EU-Mitglieder schließlich Erdogan weitere Milliardenhilfen zu sowie eine Ausweitung der Zollunion – undenkbar, die komplette Ignoranz, wäre Deniz Poyraz eine „Kremlkritikerin“ in Russland gewesen. Für Erdogans faschistische Paramilitärs bedeutet es grünes Licht für weitere Mordaktionen.

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"„Hasserfüllte Atmosphäre“", UZ vom 2. Juli 2021



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