Der erste Verhandlungstag des Prozesses wegen des Mordes an Walter Lübcke gegen den mutmaßlichen Täter Stefan Ernst und den Mitangeklagten Markus Hartmann ging am 15. Juni zu ende. Der vorsitzende Richter Thomas Sagebiel brachte die angemeldeten Journalisten gegen sich auf, indem er trotz des großen Andrangs (UZ berichtete) auf den Hochsicherheitssaal 165C bestand, obwohl sich um das Gebäude lange Schlangen von Pressevertretern bildeten. Der Sitzungsraum ist an sich bereits klein, und kann unter Corona-Bedingungen noch weniger Journalisten fassen. Diese müssen unter schärferen Bedingungen arbeiten: sie dürfen keine Laptops und keine Mobiltelefone nutzen. Selbst die Presseabteilung des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main ist verwundert über die harte Linie.
Zum Prozessauftakt schwiegen die Angeklagten, nur ihre Anwälte legten Befangenheitsanträge gegen das Gericht und einen Aussetzungsantrag wegen Corona vor. Diese werden später entschieden. Zuerst wurde die Anklageschrift verlesen. Sowohl die Familie Lübcke als auch der Flüchtling Ahmad E. nahmen an der ersten Sitzung teil. Die Verhandlung soll bis in den Oktober andauern.
Inhaltlich ergeben sich bereits zwei Tendenzen: Mit der – von der bürgerlichen Presse propagierten – Beschränkung auf die konkrete Tat soll das Stellen kritischer Fragen weitgehend vermieden werden, wie auch der scharf regulierte Zugang für Journalisten dazu dient. Dieser Zielstellung folgt auch der Nebenklageanwalt Kaplan. Dieser hatte im Prozess des Kölner-Keupp-Straßen-Anschlags zwar Opfer vertreten, sich aber im Plädoyer der Bundesstaatsanwaltschaft angeschlossen und sogar jene Anwälte kritisiert, die die Aufdeckung der Rolle der Behörden, vor allem des Verfassungsschutzes gefordert hatten. Man könnte auf den Gedanken kommen, eher einen Vertreter des Staatsinteresses als einen Vertreter des Angeklagteninteresses vor sich zu haben. Gegen den Satiriker Böhmermann vertrat er übrigens den türkischen Staatspräsidenten Erdogan.
Anstelle der Aufklärung werden die Opferfamilie und Ahmad E. instrumentalisiert, um ungestört den Kampf des Staates (moralisch gut!) gegen die Nazifaschisten (moralisch böse!) abbilden zu können. Die Moralisierung soll dazu dienen, dem durch die Corona-Pandemie bedrohten Vertrauen in diesen Staat wieder eine Grundlage zu geben. Diese Moralisierung ist aber ein zweischneidiges Schwert: Auf der einen Seite dient sie gut der Verschleierung und Ablenkung. Auf der anderen Seite kann die Moral – wie es sich bei den NSU-Prozessen gezeigt hat – subjektiv ehrlich motivierte Antifaschisten dazu bringen, die richtigen Fragen zu stellen. Und damit wären alle die Fragen, zum NSU, zum Verfassungsschutz, zur Rolle des faschistischen Terrors und des bürgerlichen Staates und seiner geheimdienstlichen Apparate wieder im Raum. Damit wäre die Moralisierung dahin. Aus diesem Widerspruch erklären sich Merkwürdigkeiten des Prozessauftakts.