Am 11. Dezember vor zehn Jahren starb der Kommunist und Philosoph Hans Heinz Holz. Aus diesem Anlass haben wir in der letzten Woche den ersten Teil seines Beitrags „Historischer Materialismus und ökologische Krise“ von 1984 nachgedruckt. Im ersten Teil beschäftigte sich Holz mit der philosophischen Reflektion des Menschen-Natur-Verhältnisses und kommt zum Schluss, dass die Produktionsweise die Aneignung der Natur durch den Menschen bestimmt. Damit ist die Zerstörung der Natur Systembedingung des Kapitalismus. In ihm können zwar zeitweise Reformen bestimmte Auswirkungen mildern, aber nicht überwunden werden.
Zweifellos gerät der historisch unaufhaltsame Fortschritt der Produktivkraft-Entwicklung mit dem ebenso unausweichlichen Erfordernis einer Konservierung der natürlichen Lebensbedingungen der Menschen in einen Konflikt, der durch abstrakte Wertsetzungen zu einer unauflösbaren Antinomie gesteigert wird. Die Überwindung der Not in den nicht oder wenig industrialisierten Ländern der sogenannten „Dritten Welt“ und die Aufrechterhaltung des in den Industrieländern gewonnenen Standards menschlicher Lebensführung sind gekoppelt an den weiteren Ausbau des technisch-wissenschaftlichen Instrumentariums; die Menschheit lebt von der Nutzung der natürlichen Ressourcen, und sie tut dies (bei Zunahme der Erdbevölkerung) in steigendem Maße. Jeder Verzicht auf die produktivste und effektivste Verwertung der Naturgegebenheiten würde Millionen, gar hunderte Millionen Menschen dem Elend und Hungertod ausliefern. Nahrung, Wasser, Kleidung und Energie müssen bereitgestellt werden, ihre Distribution bedarf eines dichten Verkehrsnetzes, die Behausung für Milliarden Menschen greift verändernd in die Landschaft ein – also schon die Befriedigung der elementaren Bedürfnisse (nicht erst deren Luxurierung) bewirkt schwerwiegende Umgestaltungen und möglicherweise Zerstörungen im Ökosystem. Bloßer Abbau von Technik ist keine Alternative. Günter Ropohl hat das auf eine provokative Formel gebracht: Nur mit dem Verschwinden des Menschen würde es wieder Natur geben – und die Fortexistenz der Gattung Mensch bedeutet nicht mehr und nicht weniger als das Ende der Natur.
Nun klingt diese Alternative dramatischer, als sie intendiert ist. Ro-
pohl geht es mit Recht darum zu zeigen, dass die Geschichte der menschlichen Gattung, der Weg zur „Künstlichkeit“ nicht rückgängig gemacht werden kann. Und da der Mensch selbst ein Naturwesen ist, gehört auch die technische Zivilisation zur Naturgeschichte in einem umfassenden Sinn. Den naturgeschichtlichen Charakter der gesellschaftlichen Prozesse haben Marx und Engels immer wieder betont. Nun gibt es im Laufe der Naturgeschichte ungezählte Arten, die im Zuge der Veränderung von Ökosystemen untergegangen sind oder im Selektionsprozess wegen unzulänglicher Einpassung in die Umwelt eliminiert wurden. Ist der erd- und gattungsgeschichtlich ja erst in einer frühen, sozusagen noch experimentellen Entwicklungsphase befindliche Mensch vielleicht eine Fehlentwicklung, die sich selbst durch Anwendung ihrer spezifischen Fähigkeiten wieder vernichtet?
Besonderes Naturwesen
Dass wir eben diese Frage stellen können, macht die Besonderheit des Menschen gegenüber anderen Naturwesen aus. Unser Verhalten in der Natur vermögen wir als ein Verhältnis zu der Natur zu begreifen. Dass wir uns unseres Verstandes bedienen, um unsere Bedürfnisse zu befriedigen (und dabei neue Bedürfnisse entwickeln), liegt auf der Ebene unserer Natürlichkeit, unseres Verhaltens in der Natur; denn der Verstand gehört zu unserer biologischen Ausstattung und ist ein Moment der Evolution der Arten. Zur „natürlichen (– weil aus dem Naturprozess hervorgegangenen –) Künstlichkeit“ wird dieses Verhältnis auf der zweiten Ebene der Reflexion, dann nämlich, wenn wir uns zu diesem Verhalten, das als Verhältnis vergegenständlicht erscheint, verhalten. Darin liegt die Chance, dass wir, statt die Natur spontan anzueignen, mit Folgen, die sich sozusagen hinter dem Rücken der Gesellschaft einstellen, das Ganze von Mensch und Natur bei jedem Akt der Aneignung mitdenken und ihre Wechselwirkung in Rechnung stellen können. Das heißt, wir können nicht nur Ziele, sondern Zielsysteme entwickeln, in deren Konzept die Korrektive gegen Schadensfolgen aus einfachen linearen Zweck-Mittel-Beziehungen eingebaut werden können. Diese zweite Ebene des Naturverhältnisses bedeutet allerdings nicht ein „retour à la nature“, sondern einen Durchbruch zu einer geplanten Natur aus Einsicht in den Systemcharakter der Welt, zu der wir gehören. Ropohl macht deutlich, dass „die natürlichen Umgebungen der zu schaffenden Artefakte von vornherein in den Erfindungsgang einbezogen werden“ müssen; und weiter: „Die technische Reorganisation der Natur muss ihren Horizont erweitern und Faktoren ökologischer Systemgleichgewichte in den Gestaltungsprozess einbeziehen: Die Rückführung entnommener Ressourcen und Neutralisation voraussehbarer Schadwirkungen müssen ihren konstitutiven Platz im Variations- und Kombinationsprozess der erfinderischen Antizipation erhalten. (…) Die klare Einsicht des Menschen, mit natürlichen Beständen und Abläufen in mannigfachen Systemzusammenhängen verkettet zu sein, ist ihrerseits schon wieder eine theoretische Vergegenständlichung, die selbstverständlich auch praktische Manipulationen dieser Systemverflechtungen begründet und gerade infolge der umfassenden Systemperspektive zu einer Erweiterung auch der praktischen Vergegenständlichung Anlass gibt. Dies ist es, was ich die zunehmende Technisierung der Natur nennen möchte.“
Technik und Interessen
Technisierung der Natur heißt dann aber nicht Auslieferung der Naturgegebenheiten an die „instrumentelle Rationalität“ der partikularen Interessen. Vielmehr ist dazu „eine Fülle weiteren Wissens und besonders auch eine neue Systemqualität des Wissens erforderlich“. Dieses Wissen schließt eine historische Perspektive des „allgemeinen Wohls“ (commune bonum) gegenüber der im bürgerlichen Denken gesetzten Priorität des individuellen Eigeninteresses ein. Das „allgemeine Wohl“ ist eben nicht nur der Inbegriff des technisch-zivilisatorischen Reichtums, sondern umfasst auch die Erhaltung der außermenschlichen Biosphäre als Medium, in dem der leibliche Mensch (einschließlich der psychischen Derivate seiner Leiblichkeit) existiert. Die Gesellschaftlichkeit des Menschen hat in der Materialität seiner biologischen Konstitution ein unhintergehbares Fundament. Und darauf ist sein Naturbegriff bezogen – denn „Natur“ bliebe ja auch eine vom Menschen zerstörte und für ihn unbewohnbar gemachte Erde. (In dieser Hinsicht ist die Perspektive der Ökologen nicht minder anthropozentrisch als die der Technokraten und dieser Standpunktgebundenheit können wir auch gar nicht entgehen, wir können sie nur in einer dialektischen Konstruktion des Gesamtzusammenhangs der Natur reflektieren und so unseren Standpunkt bestimmen.)
Die „neue Qualität des Systemwissens“ schließt eine konstruktive Bestimmung des Real-Allgemeinen ein, das die Menge verschiedener Standpunkte und konkurrierender partikularer Interessen nicht extensional in leerer Gattungsallgemeinheit umfasst, sondern intensional als ein inhaltlich erfülltes bestimmtes Gegenteil der Partikularität hervortritt. Die nicht-dialektischen Erkenntnismethoden der analytischen Philosophie, des kritischen Rationalismus und verwandter philosophischer Strömungen reichen dafür nicht aus.
Alle gegen alle
Nun ist der für das Wissenschaftsverständnis der bürgerlichen Philosophie konstitutive Verzicht auf die Konstruktion historischer Universalien nur die weltanschauliche Entsprechung einer Gesellschaftsordnung, deren „Bewegungsform“ das institutionell geregelte „bellum omnium contra omnes“ (Krieg aller gegen alle, UZ), das Prinzip der sich gegeneinander „im freien Spiel der Kräfte“ durchsetzenden Partikularinteressen ist und deren Erfolgsmaß in der durch Jahresabschlussbilanzen ausgewiesenen Akkumulation des Kapitals liegt. „In diesem Kontext sind die Menschen und die Natur bloße Objekte, nichts außer Quellen des Reichtums, die anarchisch ausgebeutet bzw. ausgeplündert werden.“ Die ökonomischen Nachteile einer Berücksichtigung ökologischer Grenznormen können in einem Wettbewerbssystem der privaten Produzenten wegen des Risikos der Wettbewerbsunfähigkeit nicht aufgrund noch so wohlmeinender individueller Einsichten übernommen werden; das Gebot der Kostenminimierung setzt sich durch. Moralische Appelle und abstrakte Vernunfteinsichten reichen daher nicht aus, um Interessen aus der Welt zu schaffen, die im System der Produktion selbst, also in den Produktionsverhältnissen, entspringen. Schwellenwerte der ökologisch zulässigen Umweltbelastungen sind wegen der Kumulationseffekte sinnvoll nur weltweit festzusetzen und ihre Einhaltung durch globale Produktionsplanung zu erzwingen; eine solche Planung ist aber innerhalb des Kapitalismus und einer marktwirtschaftlichen Verkehrsform systemwidrig und undurchführbar. Ja, solange eine Systemkonkurrenz im Rahmen friedlicher Koexistenz besteht, gibt es auch noch unvermeidliche Rückkoppelungseffekte der kapitalistischen gesamtgesellschaftlichen Irrationalität auf die Realisationsformen des sozialistischen Systems. Hinzu kommt, dass das Wachstum des militärisch-industriellen Komplexes einen steigenden Raubbau an natürlichen Ressourcen nach sich zieht, – selbst dann, wenn die Gefahr einer globalen Katastrophe durch Anwendung der totalen Zerstörungskapazität heutiger Kriegstechniken im Zuge einer konsequenten Friedenspolitik gebannt werden kann. Nicht erst die Anwendung, sondern bereits die Produktion riesiger Waffenbestände hat eine zerstörerische Wirkung auf das Ökosystem der Erde.
Die Ökokrise ist unter den Bedingungen des Privateigentums an Produktionsmitteln nicht zu überwinden. Sie ist ein Aspekt der allgemeinen Krise des Kapitalismus. „Insofern sind die Aussagen des ‚Club of Rome‘(…) nicht falsch: dass die Menschheit, wenn auf kapitalistische Weise weiter Raubbau an den beiden wichtigsten Quellen des Reichtums – der Natur und der menschlichen Arbeitskraft – getrieben wird, dann einer Katastrophe entgegengeht. Daran kann kein Zweifel sein.“ Das bedeutet als Alternative: „Planmäßige Produktion zum Zwecke der Befriedigung sich ständig steigernder materieller und kultureller Bedürfnisse der Menschen. In diesem vernunftgemäßen Plan werden immer mehr auch die Verhältnisse der Menschen zu ihrer gesellschaftlichen, natürlichen und technischen Umwelt zum Inhalt und Bestandteil der gesamtgesellschaftlichen Realität.“ Das heißt: „Die kapitalistische Weise des Eingriffs des Menschen in die Natur (muss) durch eine andere, durch die sozialistische abgelöst werden.“
Planung der Umwelt
Natürlich kann das nicht zur Folge haben, dass partielle, punktuelle Maßnahmen gegen die Umweltzerstörung auf die Veränderung der Gesellschaftsordnung im weltweiten Maßstab verschoben werden müssten. Auch jede Teilkorrektur an der irrationalen Ausbeutung der Natur, an den in Kauf genommenen zerstörerischen Folgen der industriellen Produktion ist eine Investition für die Zukunft der Menschheit. Zum Abwarten ist keine Zeit mehr. Nur muss man sich darüber im klaren sein, dass solche Teilkorrekturen unzureichend bleiben, solange die Produktionsverhältnisse einer rationalen globalen Planung der Umwelt, will sagen: der menschlichen Lebenswelt, entgegenstehen. Eingriffe in die Natur sind das Wesen unseres Naturverhältnisses, unseres „Stoffwechsels mit der Natur“. Worauf es ankommt, ist „die andere soziale Determiniertheit solchen Eingreifens in die Natur“. Sie erst macht den Stoffwechsel mit der Natur gemäß der Einsicht in deren dialektische Verfassung und unsere Eingliederung in sie möglich, weil dann das gesellschaftliche Real-Allgemeine als wirklich Allgemeines und nicht nur als Verallgemeinerung eines Besonderen konstituiert wird. Dies meint – in einer dialektischen Umkehrung der Fundierungssrelation – die Determination des Naturverhältnisses durch die Produktionsverhältnisse. Die Philosophie ist hier vor eine konzeptuelle Aufgabe gestellt, für die ihr der dialektische Materialismus das Handwerkszeug liefert.