Russland hat interessante Waren im Angebot: Öl, Gas, Kohle, Getreide, Düngemittel, dazu eine Menge Metalle und Mineralien – von Rüstungsgütern erst gar nicht zu reden. Dass sich der Sanktionswesten nun selbst von der Versorgung mit diesen Gütern ausgeschlossen hat und sich auf Biegen und Brechen selbst ruinieren will, bedeutet natürlich nicht, dass die übrigen Staatsführer in ebenso suizidaler Mission unterwegs sind. Im Gegenteil: Seit Europa „Putin“ in die Pleite sanktionieren will, ist Moskau zur ersten Adresse für zahlreiche Staaten des Globalen Südens geworden, die hier eine Lösung ihrer Ernährungs-, Energie- und Entwicklungsprobleme erhoffen. Dazu kommt, dass Moskau großzügige Rabatte auf die spekulationsgetriebenen Preise gewährt und so gewissermaßen Win-win-Situationen schafft.
Diese Lage hat zu einer deutlichen Neuorientierung von Indiens Modi-Regierung geführt. Indiens Import von russischer Kohle ist vom 27. Mai 2022 bis zum 15. Juni 2022 laut „Reuters“ um das Sechsfache gestiegen, von russischem Öl im selben Zeitraum um das 31-Fache geradezu explodiert. Die indischen Russlandimporte hatten im letzten Finanzjahr (bis Ende März 2022) ohnehin schon um 80 Prozent zugelegt. Die Modi-Regierung, die zuzeiten der Trump-Regierung durchaus noch mit Washington geflirtet hatte, hat sich nun geradezu spektakulär allen westlichen Sanktionsforderungen widersetzt und sich demonstrativ ihren eurasischen Nachbarn zugewandt. Russland kann, wie „Reuters“ aus einem Dokument des Habeck-Ministeriums zitiert, mit einem Anstieg seiner Einnahmen aus fossiler Energie auf Jahresbasis um 38 Prozent rechnen. Das wäre dann ein Anstieg von 244 auf satte 337,5 Milliarden US-Dollar. „Frieren gegen Putin“ – ein brillantes Konzept.
Seit der Jahrhundertwende gibt es konkrete Pläne, die den russisch-indischen Handel infrastrukturell zu unterstützen und zu verbessern suchen. Das würde natürlich ebenso die Handelsmöglichkeiten der an dem 7.200 Kilometer langen Handelskorridor gelegenen Länder verbessern, welcher das indische Mumbai über Iran und das Kaspische Meer beziehungsweise über Aserbaidschan mit Moskau verbindet. Diesem 2002 von Russland, Indien und Iran gestarteten „International North-South Transport Corridor“ (INSTC) gehören heute 13 Mitgliedsstaaten an (Armenien, Aserbaidschan, Belarus, Indien, Iran, Kasachstan, Kirgisien, Oman, Russland, Syrien, Türkei, Tadschikistan und die Ukraine). Er verkürzt die Strecke Mumbai–Moskau um etwa 40 Prozent und macht den Warentransport etwa 30 Prozent billiger als auf der traditionellen Route. Der INSTC kreuzt den Korridor der Belt-and-Road-Initiative (BRI), der China mit Zentral- und Westasien verbindet, in Teheran. Iran wird damit zur Drehscheibe des Ost-West- wie des Nord-Süd-Handels. Das beflügelt die Ideen für Verzweigungen und Anschlussmöglichkeiten. Hier liegen enorme ökonomische Entwicklungspotenziale für die gesamte zentralasiatische Region wie beispielsweise die Trans-Caspian Railway, welche das Kaspische Meer, Turkmenistan und Usbekistan verbindet, oder die Kasachstan-Turkmenistan-Iran-Railway, welche das energiereiche Westkasachstan mit Bereket in Turkmenistan verbindet und am Kaspischen Meer im iranischen Gorgan endet. Die von den Westmedien als Konkurrent der BRI bezeichnete INSTC-Trasse ergänzt das BRI-Netzwerk geradezu ideal.
Obwohl viele Einzelprojekte noch lange nicht fertiggestellt sind, meldete die russische Seite nun den ersten erfolgreichen Warentransport auf der INSTC-Route. Der von Indien betriebene Aufbau des iranischen Tiefseehafens Chabahar beispielsweise, der das überlastete Bandar Abbas, das derzeit noch 80 Prozent des iranischen Seehandels abwickelt, entlasten soll und auch die Fähigkeit besitzt, übergroße Ozeanriesen abzufertigen, kam lange Zeit wegen US-Sanktionen nicht recht vom Fleck. Chabahar hat strategische Bedeutung nicht nur für den INSTC, sondern auch für die Anbindung Afghanistans an den Indischen Ozean. Die Trasse Chabahar–Afghanistan ist für das Binnenland am Hindukusch eine große Chance. Mit dem „Sanktions-Blitzkrieg“ kommt nun Bewegung in die Sache. Chabahar soll massiv ausgebaut werden.
Die verzweifelten Anstrengungen des „Wertewestens“ zur Aufrechterhaltung seiner globalen Vorherrschaft, die auch vor Krieg nicht zurückschrecken, haben die Notwendigkeit erkennen lassen, Transportrouten außerhalb des Bedrohungs- und Blockadebereichs der US-Navy aufzubauen. Sowohl INSTC als auch BRI können als strategische Antwort auf dieses Bedrohungsszenario betrachtet werden. Es geht aber um weit mehr: Es geht um die infrastrukturelle Durchdringung des Eurasischen Kontinents und um die Herausbildung neuer Handels- und Kooperationsstrukturen, um nachhaltige Entwicklung auf dem eurasischen und afrikanischen Kontinent.