Die sowjetische Schriftstellerin Larissa Reissner wurde Zeugin des Hamburger Aufstands. In ihren Reportagen hielt sie Leben, Leiden und Kampf der Arbeiter fest. Sie kam 1895 im polnischen Lublin zur Welt. Die Familie floh 1896 nach Deutschland. Dort lernte Reissner Karl Liebknecht und Lenin kennen. Kurz nach der Oktoberrevolution trat sie den Bolschewiki bei und wurde Kommissarin bei der Roten Flotte. In den frühen 1920er Jahren widmete sie sich der Schriftstellerei und bereiste dafür die Sowjetunion und Deutschland. Sie starb am 9. Februar 1926 an Typhus.
Wie ein großer, eben gefangener, noch zuckender Fisch liegt Hamburg an der Nordsee.
Ewige Nebel lagern auf den zugespitzten schuppigen Dächern seiner Häuser. Kein Tag hält seinem blassen, windigen, launischen Morgen die Treue. Mit Flut und Ebbe wechseln dumpf nasse Wärme, Sonne, graue Kälte des offenen Meeres und Regen, der auf den blanken Asphalt niederströmt, als wenn jemand, am Seeufer stehend, mit einem alten durchlöcherten Schiffseimer die halbe Elbe auf das von Feuchtigkeit rauchende, vom Grog der Hafenkneipe durchwärmte lustige Hamburg ausschüttet, das breitbeinig auf beiden Ufern der Elbe steht wie auf einem Schiffsdeck.
Wie ein Vorurteil, wie etwas, das nicht mehr in unsere Zeit gehört, ist die Natur an den Ufern dieses riesigen Industrieflusses ausgemerzt. Im Verlauf Dutzender Kilometer sah ich zwei Bäume. Doch diese glichen eher Masten, von einem Schiffbruch übriggeblieben: den einen an der Mole, gebückt wie eine Alte, die gegen den Wind kämpft, der ihre wollenen Strümpfe mit zornigen Schaumflocken bewirft. Den zweiten am Kontor der größten der Hamburger Werften, der Werft von Blohm & Voss. Dieser Baum steht nur aus Angst da: unter ihm ein widerwärtiger schwarzer Kanal, in den sich die Fabriken durch die aufgesperrten Rachen der Zuflussrohre erbrechen. Eine Brücke, das Häuschen eines Postens, und am anderen Ufer, im blassen Licht der fünften Morgenstunde, die glänzenden Fenster der unsichtbaren Gebäudekomplexe; endlose Reihen übereinander, knüpfen sie ihr elektrisches Licht an das Tageslicht an. Das größte Wunder, das Schlankste, was das Reich des schlanken Metalls kennt, sind die sich über den Hafen beugenden leichten Tore der größten Hebekräne, die es in der Welt gibt. Zu ihren Füßen liegen wie aufgetürmtes Spielzeug fertiggebaute Ozeandampfer, mit erleuchteten Bordfenstern, mit unschönem Unterteil, gleich Schwänen, die man aus dem Wasser gehoben hat. Hier arbeiten drei Schichten – krampfhaft, unbarmherzig. Hier macht die deutsche Bourgeoisie, indem sie die Arbeiter wie nasse Wäsche auspresst, die letzten hoffnungslosen Versuche, die sie paralysierende Krise zu überwinden; sie baut, schafft neue Werte, bevölkert den Ozean mit ihren weißen schwarzröhrigen Schiffen, an deren Heck das alte kaiserliche schwarzweißrote Banner mit einem kaum merklichen republikanischen Fleck weht. Alles, was sonst Himmel heißt, ist hier in Hamburg der Rauch der Fabrikschlote, sind die Greifarme der Hebekräne, die die Schiffsbäuche plündern und steinerne Riesenkästen auffüllen; leichte, flüchtig geneigte Brücken überdecken die nasse Geburtsstätte der neu erstandenen Schiffe. Heulen der Sirenen, Fluchen der Pfeifen, Flut und Ebbe des Ozeans, der mit dem Unrat spielt und mit den Möwen, die wie Schwimmhölzer auf dem Wasser tanzen, und gleichmäßige Würfel dunkelroter, aus Ziegeln gebauter Gebäudekomplexe, Lager, Fabriken, Kontore, Märkte, geradlinig gebaute Zollämter, die aussehen wie eben abgeladene Gepäckstücke. Eine Armee, Legionen von Arbeitern sind in diesen Werften bei dem Laden und Löschen der Schiffe, in den zahllosen Metallwerken, ölverarbeitenden und chemischen Fabriken, in einigen der größten Manufakturen und auf den großen Bauplätzen beschäftigt, die das Hinterland von Hamburg, seinen sumpfigen und sandigen Grund, ununterbrochen mit einer Kruste von Beton und Stahl bedecken.
Die Häuser der Patrizier spüren in ihrem Nacken den unsauberen, erregten Atem der Vorstädte. Der Ring der elektrischen Bahnen spannt die gedrängten Vorstädte eng um die eleganten Viertel; zweimal am Tage saust der trübe Strom der Arbeiter, die Stadt nach den Docks zu durchquerend, die Wagen mit dem Geruch von Schweiß, Teer und Alkohol erfüllend, um ihre Villen.
Über der Straßenbahn hängt in der Dunkelheit die Stadtbahn, kurze, leuchtende Bänder der elektrischen Züge der Hochbahn winden sich über dieser, und alle zusammen schaffen eine ganze Armee, Hunderttausende von Dockarbeitern und weitere Hunderttausende von Arbeitslosen, die, in der Hoffnung auf einen gelegentlichen Verdienst, die Anlegestellen umlagern, zum Hafen. Jeder Trupp sammelt sich um seinen Meister, zwischen den geteerten Jacken, höckrigen, mit Werkzeug beladenen Schultern leuchtet wie bei Bergarbeitern das Öllämpchen. Nach dem Namensaufruf verteilen sich die Arbeiterregimenter auf Hunderte von Dampfern, die sie in die Werften und Betriebe bringen. Durch vier Brücken strömen sie in das Industriezentrum. Truppen und Polizei passen scharf auf, daß kein einziger „Zivilist“ auf die Industrieinseln dringt. Aber auch diese Brücken und Hunderte von Dampfern, die mit ihren Lichtern und Scheinwerfern einen unerhörten Karneval, ein schwarzes, geteertes Venedig aufführen, genügen der Flut der Morgenschicht nicht. Tief unter dem Elbgewässer liegt ein trockenes, helles Rohr, der Elbtunnel, der morgens und abends Legionen von Arbeitern von Ufer zu Ufer pumpt.
An beiden Enden dieses Tunnels heben und senken sich Riesenlifts und werfen den Strom zu den Betonausgängen.
In ihren eisenknarrenden, schraubenförmigen Türmen bewegen sich diese beiden Lifts wie zwei mächtige Schaufeln, die unausgesetzt lebendiges Heizmaterial in die zahllosen Fabriköfen schleudern. Aus ihren Essen kam der Hamburger Aufstand.
Der Anfang der revolutionären Bewegung beginnt nicht im Oktober, sondern im August des Vorjahres, als Hamburg zu einer Arena von hartnäckigen und erbitterten Kämpfen für den Arbeitslohn, für den achtstündigen Arbeitstag, für die Entlohnung in Goldwährung, für eine ganze Reihe nicht nur ökonomischer, sondern auch rein politischer Forderungen wurde: Arbeiterregierung, Produktionskontrolle und so weiter. Diese gewerkschaftlichen Kämpfe waren begleitet von Streikausbrüchen und stürmischen Eruptionen des anwachsenden revolutionären Hasses: von der Demolierung von Lebensmittelläden, von der Verprügelung der Polizisten und Streikbrecher. Die Hamburger Arbeiterinnen haben sich in diesen Monaten besonders ausgezeichnet; im Allgemeinen sind die Frauen einer großen Hafenstadt weitaus selbständiger und politisch gereifter als ihre Genossinnen in den meisten Industriezentren Deutschlands. Sie waren es, die im August des Vorjahres ihre Männer hinderten, die Arbeit in den streikenden Werften wiederaufzunehmen. Ihre lebendige Kette vermochten weder Polizeibajonette noch kleinmütige Arbeiterhaufen, die bereit waren, jede Bedingung der Arbeitgeber anzunehmen, von dem Elbtunnel zu verdrängen und zu durchbrechen. Einer dieser Zusammenstöße endete mit der Entwaffnung und Verprügelung einer Polizeiabteilung, zumal ihres Leutnants, der sie leitete und dafür im schmutzigen, kalten Elbwasser ein Bad nehmen musste.
Begonnen im August, konnte diese Bewegung nicht mit einem Zusammenbruch enden – wie es die Bourgeoisie ausposaunt hat – und auch nicht mit der „glänzenden“ militärischen Demonstration der Reichswehrkräfte vom 23. bis 26. Oktober. Diese Bewegung konnte nur mit einem Sieg oder mit einer Niederlage der gesamten Arbeiterklasse Deutschlands enden. In dieser Kontinuierlichkeit, in diesem steten und anhaltenden Wachstum, das die Hamburger Genossen auszeichnet, liegt der grundlegende Unterschied des bewaffneten Aufstandes von dem sogenannten politischen „Putsch“.
Wenn aber einem solchen Versuch, die Macht zu erobern, aus diesem oder jenem Grunde ein Misserfolg folgt, dann zerfallen diese Massen, lösen sich aus jeder Organisation heraus, verstärken ihre Niederlage durch eine wütende Selbstkritik. Die regulären Stammtruppen der politisch gereiften Massen dagegen kehren nach einem Sturmangriff zu ihren alten Schützengräben zurück, sie sind fähig, die langweilige, langsame Belagerungsarbeit, die Minierarbeit des illegalen Kampfes und die alltäglichen kleinen Scharmützel wiederaufzunehmen. Der Hamburger Aufstand bietet – sowohl nach dem anhaltenden, ihm vorangegangenen politischen Prozess als auch, und das ganz besonders, nach der glänzenden Arbeit, die in den Tagen und Wochen nach seiner Liquidation geleistet wurde – ein klassisches Beispiel für einen echten revolutionären Aufstand, der die interessanteste Strategie der Straßenkämpfe und eines einzigartigen, idealen Rückzugs ausgearbeitet und in den Massen das Gefühl einer zweifellosen Überlegenheit über den Feind, das Bewusstsein des moralischen Sieges zurückgelassen hat.
Die Ergebnisse dieser Arbeit sind nicht zu übersehen. Noch nie hat der Zerfall der alten Gewerkschaftsorganisationen ein so gewaltiges Ausmaß erreicht wie gerade nach den Oktobertagen. Vom 25. Oktober 1923 bis 1. Januar 1924 sind aus den Reihen der reformistischen Gewerkschaftsverbände mehr als 30.000 alte, langjährige Mitglieder ausgetreten.
Ich hatte Gelegenheit, an einer Versammlung eines der Zweige des Bauarbeiter-Verbandes teilzunehmen, der beschlossen hatte, in einer Stärke von achthundert Mann aus dem Verband auszutreten und seine eigene Vereinigung zu gründen. Unter den Anwesenden waren ältere, teils parteilose Arbeiter, Meister ihres Fachs, die keinerlei Not litten, die ihre Mitgliedsbeiträge seit Jahrzehnten regelmäßig zahlten.
In dieser Versammlung forderten alte Leute mit wuterstickter Stimme einen sofortigen und vollständigen Bruch mit den „Bonzen“. Kein Kommunist hätte die alte Partei mehr hassen, ihren Zusammenbruch stärker empfinden können. Vergeblich versuchten Mitglieder der KPD, die Versammelten von der Absicht abzubringen, einen „eigenen Laden“ aufzumachen, bestanden darauf, die Gewerkschaften von innen heraus, durch eine starke, ihren Einfluss ständig verbreiternde Opposition zu revolutionieren. Die Arbeiter verabscheuen die Gewerkschaft als etwas, das nicht einen einzigen Arbeitergroschen, der in ihre Kasse gezahlt wird, wert ist.
Die Kommunistische Partei und die hinter ihr stehenden Massen haben sich nicht nur innerlich, sondern auch äußerlich unendlich gefestigt. Ihre Aktivität ist nicht geschwächt, trotz der zahlreichen Verhaftungen (übrigens wurden die meisten nicht während des Aufstandes, sondern nachher auf Grund von freiwilligen Denunziationen seitens der Kleinbürger vorgenommen). Im Gegenteil: Alle Mauern von Hamburg sind mit unauslöschlichen Aufschriften bedeckt. An jeder Straßenkreuzung, an jedem öffentlichen Gebäude liest man die Aufschrift: „Die Kommunistische Partei lebt. Sie kann nicht verboten werden!“ Mag der Reichstag für das „Ermächtigungsgesetz“ gestimmt haben; mag Seeckt die Fülle der Macht in seinen Händen haben, mag die weiße Diktatur die letzten Reste, die letzten kleinen Freiheiten der Arbeitergesetzgebung vernichten – dennoch sind alle Wände der Baracken, wo die Arbeiter registriert werden, von oben bis unten wie mit Tapeten frisch mit den kleinen kommunistischen Plakaten beklebt. Wie Schneeflocken wirbeln sie in alle Versammlungen der SPD, fallen von den Galerien, kleben an den Wänden der Kneipen, an den Scheiben der Straßen- und Untergrundbahnen. Die Frauen der entfernten Viertel, deren ganze männliche Bevölkerung „unterwegs“, das heißt geflohen ist oder in Gefängnissen sitzt, fordern die Zusendung von Plakaten und Flugblättern. Und wenn sie sich über etwas beklagen, so doch nur über das Fehlen einer billigen kommunistischen Zeitung. Alles das ist einer Niederlage so wenig ähnlich, dass die Richter der Kriegsgerichte, unter dem Druck der drohenden schweigsamen Massen, die Urteile zu mildern versuchen. Die Verurteilten gehen in die Festung oder in das Zuchthaus mit dem Stolz und der Ruhe von Siegern, mit der unerschütterlichen Gewissheit, dass die Revolution den Ablauf ihrer fünf, sieben oder zehn Strafjahre unbedingt unterbrechen wird; sie gehen mit einem herablassenden Spott für die Gesetze des bürgerlichen Staates, die feige Brutalität seiner Polizei und die Festigkeit seiner Gefängnismauern. Dieser Glaube kann nicht täuschen.
Larissa Reissner
Hamburg auf den Barrikaden, 18 Euro
Oktober, 27 Euro
Erhältlich im uzshop.de