Zum 50. Todestag des Musiktheoretikers und Philosophen Theodor Wiesengrund Adorno

Halbe Dialektik

Von Arnold Schölzel

Im Juli 2019 veröffentlichte der Suhrkamp-Verlag den Text eines bisher nur als Tonaufnahme bekannten Vortrags, den der Musiktheoretiker und Philosoph Theodor Wiesengrund Adorno, der am 6. August vor 50 Jahren starb, im April 1967 auf Einladung des Verbands Sozialistischer Studenten Österreichs in Wien gehalten hatte: „Aspekte des neuen Rechtsradikalismus“. Hintergrund waren die Erfolge der 1964 gegründeten NPD. Die „Kritische Theorie“ oder „Frankfurter Schule“, deren Gründergeneration Adorno neben den Philosophen Max Horkheimer (1895 – 1973) und Herbert Marcuse (1898 – 1979) repräsentierte, befand sich gleichzeitig auf dem Höhepunkt ihres Einflusses unter der rebellierenden Studentenschaft kapitalistischer Länder.

Die politische Analyse, die Adorno in Wien vortrug, liest sich wie ein marxistischer Kommentar zur heutigen Lage. So stellt der Redner gleich zu Beginn fest, „dass die Voraussetzungen faschistischer Bewegungen gesellschaftlich nach wie vor fortbestehen“. Er denke „in erster Linie an die nach wie vor herrschende Konzentrationstendenz des Kapitals“, die nach wie vor „die Möglichkeit der permanenten Deklassierung von Schichten, die ihrem subjektiven Klassenbewusstsein nach durchaus bürgerlich waren“ bewirkt. Diese Gruppen tendierten „nach wie vor zu einem Hass auf den Sozialismus oder das, was sie Sozialismus nennen“. Das liege auch daran, dass die SPD „die Potentiale einer Veränderung der Gesellschaftsstruktur, die in der klassischen marxischen Theorie gelegen waren, abbiegt“, aber „die Bedrohung der Verarmung“ für die genannten Schichten verstärke.

So klar Adornos Analyse vor allem auch der subjektiven Seite neuer faschistischer Tendenzen im Weiteren ist, so konventionell und konservativ erscheint, was er über die bestimmenden politischen Kräfte seiner Zeit zu sagen hat, erst recht über die sozialistischen Länder („niedriger Lebensstandard“, „Unfreiheit“). Über Antikommunismus als Staatsdoktrin und dessen Zusammenhang mit dem neu erwachten Faschismus ließ er sich nicht aus. Das hatte einen einfachen Grund: Spätestens seit seinem Exil in den USA war er selbst Antikommunist.

„Eigenständiger“ Anspruch

Die Diskrepanz zwischen politischer Klarheit in Bezug auf den Faschismus und letztlich antikommunistisch, politisch bedingter Leugnung des Primats von Ökonomie über Politik zieht sich durch die Geschichte der „Frankfurter Schule“. Dabei fing es bemerkenswert an. 1924 entstand das Institut für Sozialforschung (IfS) an der Universität Frankfurt am Main, angeregt wahrscheinlich durch eine Idee Lenins, nach der ein von der Kommunistischen Internationale unabhängiges Institut die Entwicklung Sowjetrusslands und der kommunistischen Bewegung kritisch-solidarisch durch unabhängige Wissenschaftler begleiten sollte. Eine wichtige Rolle beim Entstehen des IfS spielte der Ökonom und spätere Kundschafter der Sowjetunion Richard Sorge (1895 – 1944), der dort anfangs als Assistent arbeitete. Im IfS-Gebäude befand sich auch die deutsche Filiale der in Moskau herausgegebenen ersten Gesamtausgabe der Schriften von Karl Marx und Friedrich Engels, der MEGA.

Adorno kam erst ab Anfang der 30er Jahre in ständigen Kontakt mit dem IfS, als dessen Nähe zur KPD beendet war und mit der „Zeitschrift für Sozialforschung“ ab 1932 ein eigenständiger Anspruch auf marxistische Theorie erhoben wurde.

Adorno war am 11. September 1903 in Frankfurt am Main in einer reichen Familie geboren worden. Er galt als hochbegabt, legte vorzeitig das Abitur ab und schrieb sich als 17-Jähriger an der Frankfurter Universität ein. Sein Mentor war der als Filmtheoretiker später bekannt gewordene Siegfried Kracauer (1889 – 1966). Adorno betätigte sich seit 1921 als Musikkritiker, promovierte 1924 mit einer philosophischen Arbeit und begann 1925 bei dem Wiener Komponisten Alban Berg (1885–1935), dessen Oper „Wozzeck“ ihn tief beeindruckt hatte, eine Ausbildung als Komponist und Pianist. Von dem Vorhaben ließ er bald ab und wandte sich erneut der Philosophie und der Musik­ästhetik zu. Anfang 1931 habilitierte er sich in Philosophie und hielt am 8. Mai desselben Jahres seine Antrittsrede als Privatdozent in Frankfurt.

Aufhebung unmöglich

In seiner ersten großen Abhandlung in der „Zeitschrift für Sozialforschung“ unter dem Titel „Zur gesellschaftlichen Lage der Musik“ setzte Adorno dann Akzente, die sein Werk immer wieder bestimmten. Unter Berufung auf den Marxismus erklärte er Musik und Gesellschaft zu parallelen Erscheinungen und zugleich zu Gegensätzen: Ihre Rolle sei „ausschließend die der Ware“. Die Technik von Radio und Tonfilm, „mächtigen Monopolen zugehörig“, habe auch die letzte „Unmittelbarkeit“ gänzlich aufgehoben. Die Entfremdung zwischen Musik und Menschen sei im Kapitalismus „vollkommen“, die „Macht der Verdinglichung“ habe den Menschen die Musik genommen und „ihnen bloß deren Schein gelassen“.

Eine nicht-entfremdete Musik erscheint ebenso unmöglich wie Aufhebung von Entfremdung überhaupt. Ador­nos marxistischer Start verläuft sich in bürgerlichen Kulturpessimismus, der sich aus der Lebensphilosophie, aus den Werken von Nietzsche und Heidegger speist. Aus dieser Perspektive ist es folgerichtig, wenn Adorno auch „in der klassenbewusst-proletarischen“ Gemeinschaftsmusik, den Chorwerken des Schönberg-Schülers Hanns Eisler (1898–1962), dem er 1925 in Wien das erste Mal begegnet war, keine Alternative sieht. Hier sei „verkannt“, dass die ästhetischen Resultate der bürgerlichen Geschichte „nicht einfach von der proletarischen Kunsttheorie und -praxis beiseitegeschoben werden“ könnten. Daher: Eislers Musik möge agitatorisch wertvoll sein, als Kunstform stelle sie eine „fragwürdige Mischung aus Abfällen innerbürgerlich überholter Stilformen“ von Männerchor bis „neuer“ Musik dar.

Den Bruch verwischt

Diese Art der Kritik bleibt prägend für Adorno und die „Kritische Theorie“ insgesamt. Der ungarische Philosoph Andráas Gedö fasste es 1970 auf der Konferenz des Instituts für Marxistische Studien und Forschungen (IMSF) über „Die ‚Frankfurter Schule’ im Lichte des Marxismus“ so zusammen: „Sie erscheint zuerst als Deutung des Marxismus, zugleich aber von Anfang an und später immer mehr als seine Kritik.“ Sie behaupte „außerhalb des heutigen bürgerlichen Denkens und über ihm“ zu stehen, was ihre „scharfsinnigen kritischen Reflexionen“ gegen Positivismus wie gegen Existenzphilosophie beglaubigten. Zugleich verliere sich der konkret-historische Charakter solcher Strömungen. Die „Kritische Theorie“ eliminiere schließlich „den Bruch“ zwischen bürgerlicher Aufklärung und spätbürgerlicher Philosophie, das heißt zwischen bürgerlich-revolutionärer und gegenrevolutionärer Ideologie. Zwischen Kant, Hegel auf der einen Seite und Nietzsche oder Heideg­ger auf der anderen gibt es letztlich keinen Unterschied.

Solche Sichtweise hatte im Fall Adornos persönliche Folgen. Er, der formal kein Mitarbeiter des IfS war, täuschte sich im Unterschied zu dessen Angehörigen, die nach der Machtübergabe an Hitler 1933 ins Exil gingen, über die Dauerhaftigkeit des Naziregimes und blieb trotz Lehrverbot bis Mitte 1934 in Deutschland. Horkheimer hatte die Möglichkeit einer faschistischen Diktatur schon bei Gründung des Instituts geahnt und dafür gesorgt, dass dessen beachtliches Vermögen – eine Stiftung des argentinischen Getreidegroßhändlers Hermann Weil (1868–1927), vermittelt durch dessen zeitweilig der KPD angehörenden Sohn Felix Weil (1898 – 975) – im Ausland deponiert wurde. Das ermöglichte die Weiterarbeit zunächst in Europa, später in den USA. Adorno publizierte weiter als Musikkritiker und leistete sich dabei mehrere Akte politischen Opportunismus’ gegenüber den Nazis. Erst im Sommer 1934 übersiedelte er nach Oxford, wo ihn im November ein Brief Horkheimers erreichte, der den Kontakt wiederherstellte. Adorno reiste noch regelmäßig nach Deutschland und traf erst im Februar 1938 in New York ein. 1941 zog er zusammen mit Horkheimer nach Kalifornien um, reiste ab 1949 öfter in die BRD, kehrte aber erst 1953 endgültig zurück.

Lustig und schade

An der US-Westküste lebten Adorno und Horkheimer in einer Kolonie deutscher Emigranten. Adorno arbeitete dort unter anderem mit Eisler an dem Buch „Komposition für den Film“, das 1949 allein unter dessen Namen erschien. Adorno war als Koautor zurückgetreten, weil Eisler vor das antikommunistische Komitee für Unamerikanische Aktivitäten geladen worden war und Adorno nicht „Märtyrer einer Sache“ werden wollte, „die nicht die meine war und nicht die meine ist“, wie er 1969 schrieb. In diese Jahre fällt auch Adornos Beratertätigkeit in musikwissenschaftlichen Fragen für Thomas Mann, der an seinem Roman „Doktor Faustus“ schrieb.

Nur mit Bertolt Brecht kam es zu keiner ersprießlichen Beziehung und das hatte Gründe, die in philosophischen und politischen Differenzen lagen. Der Dichter notierte in seinem „Arbeitsjournal“ regelmäßig Ätzendes über Adorno, so zum Beispiel am 10. Oktober 1943: „adorno hier. dieses frankfurter institut ist eine fundgrube für den Tuiroman (blieb Fragment, A. S.). das gegenstück zu den ‚freunden des bewaffneten aufstands’ sind die ‚uneigennützigen bewunderer der idee des materialismus’. ‚marx ist nicht interessiert an den dingen, nur an den beziehungen zwischen den menschen, die in den dingen verdinglicht sind.’ lustig auch so was wie: ‚robert walser ist sehr bedeutend, da er den verfall der bürgerlichen gesellschaft widerspiegelt. schade nur, dass dieses bürgertum dann in panzerdivisionen und ss-verbände verfällt.“

Alle Kühe schwarz

Als Brecht das notierte, arbeiteten Adorno und Horkheimer bereits an dem Buch, das unter dem Titel „Dialektik der Aufklärung“ 1944 in einer hektographierten Fassung vorlag und 1947 als merklich verändertes Buch erschien. Sein Kern: Die Beschreibung der europäischen Ideengeschichte als eines Verfalls- und fast automatisch ablaufenden Selbstzerstörungprozesses, der von „Aufklärung“ selbst in Gang gesetzt worden sei. In den Begriff gehen dabei Ideologie, Technik, Wirtschaft und Herrschaft ein. Mit kämpferischer bürgerlicher Aufklärung hat er insofern nur den Namen gemeinsam. Dialektik wird als „negative Dialektik“, so der Titel eines weiteren Hauptwerks von Adorno aus dem Jahr 1966, begriffen, letztlich als ein Absolutes, als eine „Nacht“, wie Hegel einmal bemerkte, „in der alle Kühe schwarz sind“. Das Resultat ist unter dem gegen Hegels Diktum „Das Wahre ist das Ganze“ gerichteten Postulat „Das Ganze ist das Unwahre“ (Adorno in seinem Werk „Minima Moralia“ 1951) eine faktische Entschärfung, letztlich Rücknahme der Kritik an den realen Verhältnissen. An deren Stelle tritt eine erkenntnistheoretische Metakritik, deren Auskunft ist, dass die Welt unerkennbar und unveränderbar ist.

Gegen Primat der Ökonomie

Der inhaltlichen Anpassung folgte die terminologische. In einem Kommentar von Willem van Reijen und Jan Bransen zu den Textvarianten der „Dialektik der Aufklärung“ 1944 und 1947 im Band 5 der Gesammelten Schriften Horkheimers heißt es: „Durchgängig haben die Autoren (…) Termini wie ‚Monopol’, ‚Kapital’, ‚Profit’ durch weniger belastete Ausdrücke ersetzt.“ So sei aus dem „Monopol“ die „Wirtschaftsapparatur“, „das System der modernen Industrie“, „Kulturindustrie“, „die Verfügenden“ oder „das System“ geworden. Die „Monopolherren“ verwandelten sich in „Generaldirektoren“, das „Kapital“ in „Wirtschaft“. Zugleich werde öfter die Vokabel „faschistisch“ für zuvor ökonomische Bezeichnungen eingesetzt, zugleich, so die Autoren, wachse „die Distanz zur Marxschen Terminologie“, aus „Klassenherrschaft“ werde „Herrschaft“, aus „Ausbeutung“ die neutralere „Versklavung“. Die Änderungen, dokumentierten, dass sich Adorno und Horkheimer „endgültig von einer Form des Marxismus distanzieren, die ein Primat der Ökonomie unterstellt“. Dabei blieb es.

Dennoch war Adorno auch weiterhin, wie die oben zitierte Rede von 1967 zeigt, ein scharfsichtiger Antifaschist, der allerdings auch in der Studentenbewegung ähnlich Jürgen Habermas „Faschismus“ diagnostizierte. Revolution wurde ihm zum Horror. Das muss kein Hindernis für antifaschistische Gemeinsamkeit sein, mit dem Anspruch auf absolute Geltung kann es die „halbe Dialektik“ (Hans Heinz Holz) allerdings jederzeit werden. Zumal in Zeiten, in denen die Bourgeoisie in atomare Hochrüstung und weltweit agierende Truppenverbände verfällt.

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"Halbe Dialektik", UZ vom 2. August 2019



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