In gewisser Weise ist das „Petrochemische Kombinat“ in Schwedt die Mutter der gegenwärtigen Deindustrialisierungswelle in Deutschland. Denn diese Welle fällt zusammen mit der Entscheidung der jetzigen Bundesregierung vom Frühjahr 2022, alle Energiekäufe aus Russland zu stoppen. In diesem Punkt erhielt sie volle Rückendeckung der CDU/CSU. Seit nunmehr fast drei Jahren entfällt damit ein entscheidender Wettbewerbsvorteil der deutschen Industrie. Insbesondere alle energieaufwendigen Produktionen – von Stahl über Chemie bis zur Autoindustrie – hatten jahrzehntelang gegenüber den Konkurrenten aus den USA, Japan und vielen anderen Ländern einen Vorsprung, der noch aus der Zeit stammte, in der gegen die Lieferung von Röhren in die Sowjetunion günstiges Gas und günstiges Öl in beide deutschen Staaten strömte.
Diesen Lebensadern des schwarzen Goldes war es auch geschuldet, dass in Schwedt ein petrochemisches Kombinat (PCK) entstand, das die damalige DDR mit der ganzen Bandbreite von Ölprodukten von Benzin über Heizöl bis zu Asphalt versorgen konnte und bis heute die Region von der Ostsee bis Berlin versorgt.
Seitdem der Wirtschaftskrieg gegen Russland tobt, stottert dieser Motor. Mühsam und teuer ist das russische Öl zumindest teilweise ersetzt worden durch Lieferungen unter anderem aus Kasachstan, so dass die dort arbeitenden Menschen und ihre von diesen Lohnzahlungen abhängigen Familien wenigstens nicht ins Bodenlose gefallen sind. Noch gelten Beschäftigungsgarantien, die die Bundesregierung als Flankierung ihres Wirtschaftskrieges verkündet hat.
Noch-Wirtschaftsminister Robert Habeck erzählte bei seinen Auftritten vor Ort wortreich von der großartigen Zukunft Schwedts als „Drehscheibe der künftigen Wasserstoffwirtschaft“. Die zu bauen, würde eine mindestens zweistellige Milliardeninvestition erfordern, deren Amortisierung irgendwo im grünen Sternenhimmel steht. Unabhängig vom Ausgang der Bundestagswahlen am 23. Februar bringt das handfeste Sicherheit weder für die jetzt im PCK Arbeitenden noch für ihre Kinder oder gar Enkelkinder, wie das zu DDR-Zeiten gewährleistet schien.
Nicht nur Kanzler und Wirtschaftsminister, auch der russische Präsident Wladimir Putin hat sich mit diesem Werk befasst. Denn größter Anteilseigner ist immer noch mit 54,17 Prozent der russische Staatskonzern Rosneft. Bereits im Herbst 2022 hat die Bundesregierung das PCK unter „Treuhandverwaltung“ der Bundesnetzagentur gestellt und damit das operative Geschäft dem Mehrheitseigner dieses Unternehmens entzogen. Dies darf nach internationalem wie nationalem Recht nur eine Übergangslösung sein. Dem Charakter nach ist es ein Schritt, der in seinen Wirkungen fast einer Enteignung nahekommt. Diese Enteignung liege in der Logik des Kampfes der aktuellen Bundesregierung gegen alles Russische in Deutschland. Aber das hat Auswirkungen über Schwedt und Deutschland hinaus. Auf diese internationalen Aspekte hat Putin jüngst laut der „Berliner Zeitung“ hingewiesen und angesichts der Debatten um die Zukunft des PCK erklärt: „Das Einzige, was uns inakzeptabel erscheint, ist die Anwendung illegaler Methoden gegen das russische Unternehmen Rosneft durch die Bundesregierung, die wie eine einfache Verstaatlichung und Beschlagnahmung unseres Eigentums, Entfernung aus der Verwaltung usw. aussehen.“
Wie auf vielen anderen Feldern hat sich die amtierende Bundesregierung auch hier in eine Sackgasse hineinmanövriert, auf die unter der Überschrift „Raffineriestandort im Schwebezustand“ am Tag vor Heiligabend die FAZ hinwies: „Eine Enteignung würde eine Eskalation im Verhältnis zu Russland bedeuten, die alle verbliebenen Vermögenswerte von deutschen Unternehmen in Russland ins Feuer stellen würde.“ Das ist wohl wahr und deshalb würde die von Habeck und insbesondere von seinem Staatssekretär und Parteifreund Michael Kellner immer wieder ausgestoßene Drohung, Rosneft zu enteignen, eine Kettenreaktion auslösen, die eine Vielzahl von deutschen Investoren und Unternehmen betreffen würde. Daran ändert auch die erst Ende November von Kellner geäußerte theatralische Ankündigung nichts, Rosneft solle jetzt endlich verkaufen, andernfalls werde die Bundesregierung „die notwendigen Schritte ergreifen, um Schaden für unser Land abzuwenden“. Die Kluft zwischen lautem Bellen und Angst vorm Beißen ist auch deshalb verständlich, weil das Signal weit über die Beziehungen zu Russland hinausginge. Die Enteignung von Rosneft wäre die Ankündigung an alle internationalen Investoren, ob aus China, Russland, Indien oder anderswo: Eure Investitionen in Deutschland sind im politischen Konfliktfall weniger wert als das Papier, auf dem eure Anteile verbrieft sind.
Den Schaden von diesem abenteuerlichen Kurs haben vor allem die rund 1.200 Beschäftigten und die vom PCK abhängigen Zulieferer und Kleinunternehmen wie Bäcker, Schneider oder Gastwirte in Schwedt und um Schwedt herum. Der Bund hat laut „Berliner Zeitung“ in einem Schreiben an Brandenburgs Wirtschaftsminister Daniel Keller (SPD) eine bis Ende 2024 gegebene Beschäftigungsgarantie nur bis Ende Juni 2025 verlängert. Die Beschäftigten sind es vor allem, die sich, um das Wort der FAZ aufzugreifen, im „Schwebezustand“ befinden.
Die Treuhandverwaltung ist in der Regel auf sechs Monate befristet. Trotz vernehmlichem Knurren des Bundesverwaltungsgerichts, das eine Klage von Rosneft gegen diesen Eingriff in dessen unternehmerische Rechte abgewiesen hatte, ist sie von der Bundesregierung immer wieder verlängert worden. Aus einer von den Richtern gebilligten Ausnahme wurde eine Routine. Die aktuelle Treuhandverwaltung läuft zwei Wochen nach den Bundestagswahlen aus. Die Zwickmühle besteht weiter: Wird Habeck sie gegen alle höchstrichterlichen Bedenken erneut verlängern? Wird er das russische Unternehmen Rosneft in seine vom bürgerlichen Gesetz vorgesehenen Rechte wieder einsetzen? Wird er als eine seiner letzten Amtshandlungen Deutschland zum Land machen, in dem Investitionen von den Launen der gerade Regierenden abhängig sind?
Das PCK ist also nicht nur ungewollt die Mutter der Deindustrialisierung in Deutschland. Es scheint auch die Mutter der Frage der Rechtsstaatlichkeit gegenüber Investoren in Deutschland zu sein – und das alles auf dem Rücken tausender Familien, denen, verbrämt durch hehre Worte von Würde und Werten, dieser Schwebezustand des Elends zugemutet wird.