Zum VW-Urteil des Bundesgerichtshofs

„Gute Sitten“

Die Bestimmungen des Paragraph 826 des Bürgerlichen Gesetzbuches sind eigentlich glasklar: „Wer in einer gegen die guten Sitten verstoßenden Weise einem anderen vorsätzlich Schaden zufügt, ist dem anderen zum Ersatz des Schadens verpflichtet.“

Schon das Oberlandesgericht Koblenz hatte aufgrund dieser eindeutigen Lage bestimmt: Dem Kläger, der im Glauben an die von VW zugesicherten Abgaswerte einen Sharan gekauft hatte, muss der Schaden, der ihm durch den Kauf des Fahrzeugs entstanden ist, erstattet werden – entweder durch Zurücknahme des „Schummelautos“, wie der Kläger prägnant formulierte, oder aber durch Erstattung des Kaufpreises. VW aber schleifte den Mann bis vor die obersten Zivilrichter der Republik, vor den Bundesgerichtshof. Der gab nun endlich in letzter Instanz dem Käufer Recht und den hochbezahlten VW-Rechtsverdrehern Unrecht. Die Einschränkung, die gefahrenen Kilometer müssten auf den Erstattungspreis anzurechnen sein, wird der Kläger verschmerzen. Ganz in Ordnung geht auch das nicht, denn der Wiederverkaufswert solcher Dieselfahrzeuge ging nach der Offenlegung des Betrugs von VW so in den Keller, dass alle Besitzer dieser Autos, in denen der Motor des EA 189 verbaut war, bei Strafe heftiger Verluste gezwungen waren, das alte VW-Motto „Er läuft und läuft und läuft …“ auf eine ganz neue Weise zu interpretieren.

Rund 60.000 klagende Käufer, die sich dem Konzern nicht gebeugt hatten, können aufgrund dieses Urteils nun hoffen, wenigstens finanziell anständig aus dem großen Diesel-Betrug herauszukommen. Ärgern werden sich vermutlich die 240.000, die sich nach einer Musterfeststellungsklage mit VW auf eine Abschlagszahlung für die entstandenen Schäden geeinigt hatten. Weil die Kombination aus Druck und Dickfälligkeit sich dort ausgezahlt hatte, wolle der Konzern, so hieß es am Dienstagmorgen, auch den nun auf ordentliche Schadenzahlungen hoffenden 60.000 ein Vergleichsangebot machen. Das hatten die Konzernjuristen offensichtlich schon in der Schublade liegen.

Die Langwierigkeit des Verfahrens, die Dreistigkeit des Konzerns – all das zeigt politisch: Mit den „guten Sitten“, die am Beginn des bürgerlichen Zeitalters Selbstverständlichkeiten waren, ist es in der Zerfallsphase dieses Systems nicht mehr so weit her. Wer auf sie pocht, bekommt auf dem Weg, sie einzuklagen, leicht Hornhaut auf dem Zeigefinger.

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"„Gute Sitten“", UZ vom 29. Mai 2020



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