Beim Online-„Linke“-Parteitag am vergangenen Wochenende rief die Kovorsitzende Susanne Hennig-Wellsow: „Ich kann euch eins versprechen: Wir gehen nicht zu Boden, weil wir zusammenhalten, weil wir geschlossen sind.“ Die Sätze wurden in vielen Medienberichten zitiert und kommentiert, zum Beispiel in der „Ludwigsburger Kreiszeitung“: „Wer das so betonen muss, sagt damit unfreiwillig, dass er zumindest arg schwankt und Gefahr läuft, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Für die Linke heißt das: aus dem Bundestag zu fliegen.“ Umfragewerte bei 6 oder 7 Prozent stehen dem Einigkeits- und Erfolgsoptimismus der Parteitagsregie krass entgegen.
Unglaubhafte Versprechen, markige Sprüche und Optimismus bis zur Selbstverleugnung gehören zum Wahlgeschäft im Kapitalismus – Olaf Scholz und die SPD liefern ein gruseliges Beispiel. Die Linkspartei macht es nicht viel anders. Sie legte zwar den Schwerpunkt des Wahlprogramms auf die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit und stellte einen Katalog auf, der gut klingt: 13 (statt 9,50) Euro Mindestlohn, Abkehr von Hartz IV, Mindestrente und Mindesteinkommen von jeweils 1.200 Euro, eine „Solidarische Erwerbstätigenversicherung“, in die auch Abgeordnete, Selbstständige und Beamte einzahlen, Wochenarbeitszeit von 30 Stunden, Erhöhung des Urlaubsanspruchs von derzeit 24 auf 36 Tage, bundesweiter Mietendeckel und vieles mehr. Aber das Hauptversprechen, das Hennig-Wellsow und die beiden am Sonntag bestätigten Spitzenkandidaten, Janine Wissler und Dietmar Bartsch, gaben, lautet: Veränderung der Gesellschaft, und zwar „grundlegend“. Das Wahlprogramm schrumpft aber diese verbale Revolution auf neue Steuergesetze: Vermögensteuer ab einer Million Euro und Vermögensabgabe ab zwei Millionen Euro netto.
Die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit scheint auch mit der eigenen Klimapolitik zu kollidieren: Bis 2035 soll die Bundesrepublik klimaneutral sein. Bartsch nannte richtig die Klimafrage eine Klassenfrage und warnte: „Ich möchte nicht, dass die Krankenschwester, die noch einen Verbrenner fährt und eine Ölheizung hat, bestraft wird.“ Wie das mit dem Ziel 2035 vereinbar sein soll, bleibt unklar.
Zudem: Wer Gesellschaftsveränderung predigt und dann auf Wunsch der „Linke“-Jugend die Abschaffung der Schaumweinsteuer verlangt, ist nicht ganz ernst zu nehmen. Die Begründung lautete: Mit der 1902 eingeführten Steuer sei die kaiserliche Flotte des Deutschen Reiches finanziert worden. Die wird nun offenbar nachträglich noch einmal verschrottet.
Ähnlich fragwürdig ging es beim Thema Krieg und Frieden zu: Im Wahlprogramm fehlt eine Analyse der gegenwärtigen Situation, Vokabeln wie „Imperialismus“ oder „Kriegstreiber“ kommen nicht vor. Zur NATO einerseits und zu Russland und China andererseits steht man in Äquidistanz. Und obwohl der Parteitag eindeutig Auslandseinsätze der Bundeswehr ablehnte, gab es sofort wieder Relativierungen. Dies sei die „Linie des Parteivorstandes“, rief Hennig-Wellsow hier, im Sender „Phoenix“ erklärte sie, die Frage von UN-Blauhelmeinsätzen sei „durch das Parteiprogramm nicht abschließend geklärt“. Bartsch hatte noch am Samstag in Zeitungsinterviews ein „Umdenken“ gefordert: „Über humanitäre UNO-Grünhelmmissionen sollten wir debattieren“, sagte er der „Rheinischen Post“ und dem Bonner „General-Anzeiger“.
88 Prozent der Delegierten stimmten schließlich für das Wahlprogramm, was Bartsch veranlasste, Durchhaltestimmung zu verlangen: „Wir brauchen Disziplin und Geschlossenheit.“ „Die Linke“ taumele und zittere nicht, sondern stehe aufrecht. „Unsere Idee einer solidarischen und sozial gerechten Welt, die ist und bleibt brandaktuell.“ Der letzte Satz ist zweifellos richtig. Aber ob die Linkspartei auch nur kleine Schritte durchsetzen kann, kann bei diesem Wahlprogramm verneint werden. Veränderungen zu mehr Gerechtigkeit und Frieden einerseits und andererseits Regierungseintritt schließen einander aus. Der aber ist der Zweck dieses Papiers.