Zum Stand und Verlauf der Debatte

Grundsätzliche Fragen aufgeworfen

Jan Meier, Frankfurt

Das Bildungsmaterial „Probleme beim Aufbau des Sozialismus“ der 6. PV-Tagung sollte die Gliederungen der Partei auf die Diskussion über den Charakter der VR China vorbereiten. Dies ist nicht ausreichend geschehen. Im Bildungsmaterial wird die Produktivkraftentwicklung, die der PV-Antrag als Hauptaufgabe des Sozialismus benennt, noch richtig eingeordnet: als eine Aufgabe, neben zwölf weiteren Punkten, die unvollständig seien. Ebenfalls werden die Definitionen der sozialistischen und kommunistischen Gesellschaft aus unserem Programm zustimmend zitiert. Im Antrag fehlen sie dann. Zustimmend wird im Bildungsmaterial aus Lenins „Staat und Revolution“ festgehalten: „Diese Expropriation (der Produktionsmittel) wird eine enorme Entwicklung der Produktivkräfte ermöglichen. Und wenn wir sehen, wie schon jetzt der Kapitalismus in unglaublicher Weise diese Entwicklung aufhält, (…) so sind wir berechtigt, mit voller Überzeugung zu sagen, dass die Expropriation der Kapitalisten unausbleiblich eine gewaltige Entwicklung der Produktivkräfte der menschlichen Gesellschaft zur Folge haben wird.“

Diese grundlegende Überlegung Lenins spielt im PV-Antrag keine Rolle mehr. Im Bildungsmaterial entsteht schon der Eindruck, dass sich Lenins Gedanke als falsch herausstellte und deswegen die NÖP entwickelt wurde. Diese sei dann wiederum nur aufgrund äußerer Umstände und nicht etwa aufgrund der inneren Widersprüche, die sie hervorbrachte (wie Inflation, Preisschere, Stärkung der Kulaken), beendet worden. Tatsächlich war die NÖP als Mittel zur Wiederherstellung der Wirtschaft nach dem Bürgerkrieg und zur Akkumulation von Ressourcen zur Durchführung des ersten Fünfjahresplans gedacht. Schon im Bildungsmaterial wird die NÖP zum nahezu einzig erfolgreichen Mittel zur Produktivkraftentwicklung umgedeutet. In der Folge wäre der Markt dann grundsätzlich notwendig zur Produktivkraftentwicklung im Sozialismus und nicht nur unter bestimmten Umständen und historischen Phasen.

Kaum eine Rolle spielen im Bildungsmaterial die schrittweise Überwindung der Muttermale der alten Gesellschaft und die Ausweitung der kommunistischen Produktionsverhältnisse. Diese „Aufgaben“ des Sozialismus passen nicht ins Bild. Die Entwicklung der Verhältnisse in China spielt im Bildungsmaterial keine Rolle. Zwischenfazit: Das Bildungsmaterial wird seiner ihm zugedachten Funktion als vorbereitendes Bildungsmaterial für die Einschätzung des Charakters der VR China nur sehr eingeschränkt gerecht.

Hinsichtlich des China-Antrags hatten die Gruppen lediglich acht Wochen Zeit, Änderungsanträge zu formulieren. Das ist für die meisten Gruppen zu kurz für eine gründliche Diskussion, die den Antrag in seiner Tragweite erfasst und alle Mitglieder dabei mitnimmt. Das gilt umso mehr, da der Antrag wesentliche neue Punkte enthält, die im Bildungsmaterial lediglich angedeutet wurden. In der Partei gibt es grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten in zumindest folgenden Fragen:

  • Was ist Sozialismus? Welche Aufgaben sind beim Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft und auf dem Weg zum Kommunismus zu lösen?
  • Wie bewerkstelligen wir die wichtige Aufgabe, die Produktivkräfte zu entwickeln? Durch Enteignung der Produktionsmittel, die eine planmäßige Entwicklung und Kooperation ermöglicht, oder durch die Nutzung der Marktgesetze?
  • Ist die Politik der „Reform und Öffnung“ eher als groß angelegte NÖP oder als schleichende Machtübernahme der Kapitalisten zu verstehen?
  • Wie abhängig sind ökonomische Basis und politischer Überbau voneinander? Was heißt es, dass die Ökonomie letztendlich bestimmend ist? Was ist die ökonomische Basis des Sozialismus?

Fazit: Wir müssen weiter diskutieren. Das wird auch vom PV so formuliert. Dem stünde ein Beschluss des PV-Antrags – ohne sehr weitgehende Änderungen, die zumindest die Widersprüche in der Entwicklung der VR China, die Streitpunkte innerhalb unserer Partei und den Charakter des Beschlusses als Zwischenstand deutlich herausstellen – eher entgegen. Aktuell wäre es klüger und umsichtiger, den Antrag des PV zu diskutieren, aber nicht zu beschließen. Für die gemeinsame Praxis bietet der Punkt 3 aus dem Antrag CHIN0-08 eine Grundlage, die der Parteitag noch qualifizieren könnte.

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"Grundsätzliche Fragen aufgeworfen", UZ vom 10. März 2023



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