Die staatlichen Maßnahmen im Kampf gegen die Coronapandemie spalten nicht nur die Gesellschaft, sondern auch die politische Linke. Während Einige dem Schutz von besonders gefährdeten Gruppen wie chronisch kranken und betagten Menschen, die einen Anteil von 30 Millionen Bundesbürgerinnen und -bürgern ausmachen, den größten Stellenwert einräumen, werten andere die aufgrund der Pandemie eingeführten Gesetze und Verordnungen als größten Eingriff der Nachkriegsgeschichte in die Grund- und Freiheitsrechte und wähnen die Bundesrepublik auf dem Weg in einen Polizeistaat.
Es ist ein nicht zu gering zu schätzendes Verdienst des renommierten Bürgerrechtlers und Juristen Rolf Gössner, sich mit einem 52 Seiten umfassendes Büchlein mit dem Titel „Menschenrechte und Demokratie im Ausnahmezustand“ in die Debatten um die staatlichen Maßnahmen im Kampf gegen die Pandemie eingeschaltet zu haben, welches von der Vereinigung demokratischer Juristinnen und Juristen (VDJ) herausgegeben wird. Darin skizziert der Publizist seine „Gedanken und Thesen zum Corona-Lockdown, zu ’neuer Normalität‘ und den Folgen“.
Im Prolog der Veröffentlicht stellt Gössner klar, dass es „angesichts der Corona-Epidemie und ihrer Gefahren absolut sinnvoll“ sei, „sich an bestimmte Regeln zu halten, um seine Mitmenschen und sich selbst so gut wie möglich zu schützen“. Auch, damit die „Ausbreitung des Virus verlangsamt, das Gesundheitswesen vor Überlastung bewahrt und das Leben besonders gefährdeter Personen geschützt werden“ könne. „Insoweit scheinen Bundesregierung, Landesregierungen und eine recht disziplinierte Bevölkerung, gemessen an Verlauf, Ausmaß und Folgen der Epidemie, prima facie vieles richtig gemacht zu haben“, konstatiert er. Und trotzdem sollten die „rigorosen Abwehrmaßnahmen“ des Staates im Kampf gegen die Pandemie „kritisch hinterfragt“ sowie auf ihre Verhältnis- und Verfassungsmäßigkeit überprüft werden, was „gerade in Zeiten dirigistischer staatlicher Maßnahmen, gerade in Zeiten allgemeiner Unsicherheit, Angst und Anpassung“ unabdingbar sei.
In seinen Thesen beleuchtet Gössner eine Reihe von Aspekten des ersten Lockdowns und der ihm folgenden staatlichen Maßnahmen und unterzieht diese einer kritischen Überprüfung. Schließlich gefährde das Corona-Virus „nicht allein Gesundheit und Leben von Menschen“, sondern schädige „auch verbriefte Grund- und Freiheitsrechte, Rechtsstaat und Demokratie. So griffen die Abwehrmaßnahmen „tief in das alltägliche Leben aller Menschen ein“, was schwerwiegende individuelle, familiäre, schulische, berufliche, gesellschaftliche, kulturelle und wirtschaftliche Schäden“ mit sich brächte und „dramatische Langzeitfolgen verursachen“ würde, so Gössners Einwurf.
Fragen wirft der Bürgerrechtler bezüglich der vorherrschenden Doppelmoral der Mehrheit der politischen Entscheidungsträger auf. Dabei führt er „zigtausende ertrunkene Flüchtlinge im Mittelmeer infolge der Festung Europa, ungezählte Tote und Verletzte infolge genehmigter deutscher Waffenexporte in Krisengebiete und an Diktaturen, verheerende Wirtschaftssanktionen oder militärische Interventionen“ an. „Zumindest als eklatanter Widerspruch ist dieses Messen mit zweierlei Maß bemerkenswert – schließlich geht es in all diesen Fällen ebenfalls um Gesundheit und Menschenleben“, urteilt er vollkommen zu recht.
Gössner schlägt vor, „zivilgesellschaftliche, fachbezogene sowie parlamentarische Untersuchungsausschüsse oder unabhängige Enquete-Kommissionen mit Expertenanhörungen in Bund und Ländern einzusetzen, um Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit staatlicher Abwehrmaßnahmen und ihre Folgen kritisch und im Vergleich zu einzelnen anderen Staaten zu untersuchen“. Schließlich gehe es letztlich darum, „aus den so gewonnenen Erkenntnissen Lehren ziehen zu können für eine bessere, differenziertere und damit verhältnismäßige Bewältigung künftiger Fälle“. Damit sei es jedoch noch nicht genug. „Perspektiven für überfällige gesellschaftliche, gesundheitspolitische, sozioökonomische und friedenspolitische Strukturveränderungen“ müssten entwickelt und umgesetzt werden. „Und zwar in Richtung Chancengleichheit und Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit und Klimaschutz, Abrüstung und Frieden, für eine gerechtere, zukunftsfähige Gesellschaft“. Dabei dürfe jedoch „auch die europäische Dimension sowie die globale Situation und Entwicklung“ nicht außer Acht gelassen werden lassen, da das Virus keine Grenzen kenne und „die Allerschwächsten in Staaten des Globalen Südens mit besonderer Wucht“ treffe, die schon vor Ausbruch der Pandemie „unter bitterer Armut und Gewalt sowie unter fehlenden staatlichen Strukturen und mangelhafter sozialer Absicherung zu leiden hatten“.
Man muss nicht jeder These Gössners zustimmen, zum Nachdenken und einer kritischen Bestandsaufnahme der bisher erfolgten staatlichen Eingriffe in die Bürgerrechte ist das von ihm vorgelegte Büchlein jedoch sehr gut geeignet. Gössner orientiert sich an Fakten und bietet eine ernstzunehmende Grundlage für weitergehende Diskussionen – auch mit Blick auf eine Rücknahme der staatlichen Eingriffe nach einer hoffentlich alsbald erfolgreichen Bekämpfung der Pandemie.