Das Grundgesetz passt nicht mehr zum Zeitgeist des Neoliberalismus unserer Tage, meint die FDP. „Heute sollte in unserem Land Konsens bestehen, dass es der Verstaatlichung nicht nur nicht bedarf, sondern dass sie schädlich ist“, schreiben die Liberalen im Entwurfspapier zum später abgespeckten Beschluss auf ihrem Parteitag Ende April „Entschieden gegen Enteignung durch Vergesellschaftung – ‚Bauen statt klauen‘“. Das von der Initiative „Deutsche Wohnen & Co enteignen“ angestrebte Volksbegehren sei verfassungswidrig und deshalb wolle man „eine Gesetzesinitiative zur Abschaffung der Enteignungsgrundlage Artikel 15 Grundgesetz starten“. Jedoch verstehen die Initiatoren von „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ ebenso wie die FDP Enteignung eher als einen Zwangskauf von privatem Eigentum durch die öffentliche Hand. Das nutzt die FDP für die Begründung ihres Antrages: „Vergemeinschaftungen würde den Steuerzahler nach ersten Schätzungen bis zu 36 Milliarden Euro kosten, ohne eine einzige neue Wohnung zu schaffen.“
Artikel 15 verweist bezüglich der Entschädigung bei Enteignungen auf den Absatz 3, Sätze 3 und 4 des Artikels 14, die wie folgt lauten: „Die Entschädigung ist unter gerechter Abwägung der Interessen der Allgemeinheit und der Beteiligten zu bestimmen. Wegen der Höhe der Entschädigung steht im Streitfalle der Rechtsweg vor den ordentlichen Gerichten offen.“ Was eine „gerechte Abwägung“ ist, entscheidet das Machtverhältnis zwischen den Herrschenden und den Beherrschten. Die Initiatoren von „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ und die FDP gehen von heutigen Marktpreisen aus, obwohl auch der berühmte symbolische Euro möglich wäre, wie bei der Enteignung der volkseigenen DDR-Betriebe zu Gunsten der Privatunternehmen.
Ein erfolgreiches Volksbegehren sei laut FDP trotzdem ein „Tabubruch“ und „brächte weitreichende Folgen für Berlin, aber auch für die gesamte Bundesrepublik mit sich: Neubauvorhaben würden stagnieren, Investoren abgeschreckt und öffentliche Haushalte würden sich derart verschulden, dass kommende Generationen diese Last noch lange stemmen müssten.“ Zudem seien alle betroffen, die „als Kunden von Lebensversicherungen sowie Versorgungswerken in die betroffenen Wohnungskonzerne investiert haben“. Im Entwurf des Beschlusses, der dem „Spiegel“ vorab vorlag, werden die Liberalen noch konkreter: „Wer investiert, muss sicher sein können, dass ihm weder Wohnraum noch sein Betrieb einfach weggenommen werden kann. Daher sprechen wir uns für die Streichung der Sozialisierung nach Artikel 15 Grundgesetz aus der Verfassung aus.“ Dieser sei ein Überbleibsel aus der Nachkriegszeit, als sich Deutschland noch nicht klar für den Weg der sozialen Marktwirtschaft entschieden habe.
Was die FDP meint, ist der Umstand, dass nach dem Sieg über den Faschismus nicht nur im sowjetisch besetzten Osten Deutschlands eine antikapitalistische Stimmung herrschte. Nicht nur SPD und KPD sahen den Kapitalismus als den Nährboden, aus dem der Faschismus erwachsen war, und es galt, diesen auszudörren. So beschlossen die nordrhein-westfälischen Christdemokraten das „Ahlener Programm“, in dem die CDU erklärte, dass sie den Kapitalismus überwinden wolle. Diese Grundhaltung im Nachkriegsdeutschland schlägt sich neben einigen Landesverfassungen auch im 1949 erlassenen Grundgesetz nieder. Darunter fällt der Artikel 15, in dem es heißt: „Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden.“ Derzeit laufen bundesweit alleine für den Straßenbau 65 Enteignungsverfahren gegen Grundstücks-, Haus- und Wohnungsbesitzer – keines jedoch gegen einen Großkonzern.