Tarifvertrag zur Leiharbeit möglicherweise verfassungswidrig

Grundgesetz übersehen

Von Manfred Dietenberger

Der sich in Familienbesitz befindliche Gießereibetrieb Fritz Winter Eisengießerei GmbH & Co. KG ist ein bedeutender deutscher Gussteilezulieferer der Automobil-, Nutzfahrzeug- und Hydraulikindustrie. Neben dem Hauptsitz des Unternehmens im hessischen Stadtallendorf wird auch am Standort in Laubach produziert. Zum Unternehmen gehört ebenso das Zentrum für Gussbearbeitung in Nieder-Ofleiden (Stadt Homberg/Ohm).

Weitere Standorte befinden sich in Nordamerika und China. Hergestellt werden hauptsächlich Zylinderblöcke und -köpfe, Bremsscheiben und -trommeln. In den drei Werken (mit einer Schmelzkapazität von ca. 1 000 000 Tonnen Guss pro Jahr) malochen täglich rund 3 700 KollegInnen – hinzu kommen mehrere hundert Leiharbeiter. Alle zusammen sorgen für einen Jahresumsatz von ca. 700 Mio. Euro. Damit ist das Unternehmen die größte konzernunabhängige Gießerei Europas.

In der öffentlichen Berufungsverhandlung des Leiharbeiters Armin Schund (Name von der Redaktion geändert) gegen Fritz Winter Eisengießerei GmbH & Co. KG Mitte Oktober 2017 vor dem Landesarbeitsgericht Frankfurt wurde – von der Öffentlichkeit bislang völlig unbemerkt – vermutlich eine neue Seite im deutschen Tarifrecht aufgeschlagen. Warum? Kollege A. S. arbeitet seit über sieben Jahren im Auftrag und zur vollen Zufriedenheit seines Sklavenhalters als Leiharbeiter der Firma Lagler & Becker bei der Fritz Winter Eisengießerei GmbH & Co. KG in Stadtallendorf. Immer am gleichen Arbeitsplatz. Er hatte es dann aber satt, nie wirklich seine Zukunft für sich und seine Familie planen zu können, und das auch noch bei schlechter Bezahlung. Und so forderte er einen unbefristeten tariflich geregelten Arbeitsplatz und klagte mit Unterstützung der IG Metall Mittelhessen vor dem Arbeitsgericht in Gießen.

Er berief sich dabei auf § 4 des Tarifvertrages zum Einsatz von Leih-/Zeitarbeit vom 22. Mai 2012 für Beschäftigte in der Metall- und Elektroindustrie Hessen und forderte gerichtlich ein, dass der Tarifvertrag auch für ihn gelte. Das aber sah das Arbeitsgericht Gießen anders und begründete seine Abweisung der Klage damit, dass ein Übernahmeanspruch nach § 4 des Tarifvertrages ausgeschlossen sei, da dem die Gesamtbetriebsvereinbarung „Zeitarbeit“ vom 10./16.2.2012 entgegenstehe. Mit diesem Richterspruch gab sich A. S. nicht zufrieden und klagte kürzlich vor dem Landesarbeitsgericht (LAG) in Frankfurt. Nach Auffassung des dortigen Arbeitsrichters, Prof. Dr. Peter Becker, wurde im vorausgegangenen Urteil Wesentliches übersehen, wie z. B. das Grundgesetz. Beim Artikel 9 Grundgesetz handele es sich um eine verfassungsrechtliche Norm, die auch hier zur Anwendung kommen müsse. Dieses Verfassungsrecht, einst zum Schutze der Tarifvertragsparteien festgeschrieben, sei zusätzlich abgesichert in § 77 Abs. 3 BetrVG. Daraus ergebe sich, dass eine Betriebsvereinbarung nie einen ganzen Tarifvertrag aushebeln könne, wie im Tarifvertrag Leih-/Zeitarbeit von Arbeitgebern und IG Metall vereinbart. Lediglich Ergänzungen, die günstiger für den Arbeitnehmer seien, wären darin regelbar.

Hat Richter Becker Recht – und dafür spricht alles –, dann hat die IG Metall Hessen einen Tarifvertrag abgeschlossen, der in § 7 das Scheunentor angelweit öffnete, durch das ein Tarifvertrag durch eine Betriebsvereinbarung substanziell ausgehebelt werden kann. Genau das aber lasse das geltende Recht nicht zu. Ein Urteil wurde noch nicht gesprochen. Das Gericht wollte den Kontrahenten „nur mal die Sicht der Kammer am LAG darlegen“. Die Verhandlung endete mit dem eindringlichen Appell von Arbeitsrichter Becker an die Tarifvertragsparteien, dieses Problem zu erkennen und auch zu lösen.

Fortsetzung folgt am 26. März 2018, ab 9.30 Uhr, beim LAG Frankfurt. Und die Moral von der Geschicht? Dr. Müller, der Prozessvertreter des Arbeitgebers, brachte es auf den Punkt: „Der Unternehmer hat ein Problem grundsätzlicher Art.“ Aber nicht nur der, wahrlich nicht! Auch die IG Metall – vom Gericht unausgesprochen der Selbstkastration überführt –, muss da kräftig nachsitzen und ihre Hausaufgaben machen. Die Regelung im Nachfolgetarifvertrag, vom 1. Juni 2017, ebenfalls § 7, dürfte, setzt sich Richter Becker mit seiner Auffassung durch, ebenfalls verfassungswidrig sein.

Und Kollege A. S.? Der kann wohl am gelassensten in die Zukunft schauen. Ihm wird ein fester Arbeitsplatz angeboten werden müssen.

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"Grundgesetz übersehen", UZ vom 17. November 2017



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