Seit Jahrzehnten hat sich die Bundesregierung dafür eingesetzt, Kriegsflüchtlinge so weit wie möglich in Flüchtlingslagern in den Nachbarstaaten des jeweiligen Krisengebietes unterzubringen. Dieses Modell hat dazu beigetragen, dass die Großmächte nicht die Lasten der von ihnen verursachten Kriege tragen müssen – inzwischen ist es gescheitert. Die Londoner Syrien-Konferenz der vergangenen Woche, bei der Geld für die Versorgung von Flüchtlingen im Nahen Osten gesammelt werden sollte, war eine Reaktion auf dieses Scheitern. Die Hilfe hat einen klaren Zweck: Man müsse es den Flüchtlingen möglich machen, nahe ihrer Heimat zu bleiben, damit sie „dann auch schneller wieder in ihre Heimat zurückkehren können.“ So formulierte es der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Norbert Röttgen (CDU).
Während deutsche Spitzenpolitiker davon sprechen, „Fluchtursachen zu bekämpfen“, setzt sich die Bundesregierung weiterhin dafür ein, die Flüchtlingsabwehr zu verstärken. Und sie nutzt das für eine breite Initiative, um die Länder des Nahen und Mittleren Ostens unter Kontrolle zu bringen, sie enger als bisher an Deutschland und die EU zu binden und damit die eigene Position im Konkurrenzkampf der Mächte zu stärken.
Besonders deutlich wird das am Beispiel der deutschen Politik gegenüber Jordanien. Das Land hat rund 6,5 Millionen Einwohner, inzwischen hat es (nach inoffiziellen Angaben) bis zu 1,4 Millionen Flüchtlinge aufgenommen.
Nun will das Bundesentwicklungsministerium Jordanien Mittel zur Verfügung stellen, mit denen Arbeitsplätze für Flüchtlinge geschaffen werden sollen. Dazu werde „die Gründung von Unternehmen und Handwerksbetrieben gezielt gefördert“, teilt das Ministerium mit, außerdem sollen Investitionen in die jordanische Infrastruktur unterstützt werden. Ausdrücklich ist von einem „Marshallplan für die Region“ die Rede. Wie der historische Marshallplan einst Westeuropa fest an die USA band, soll der neue „Marshallplan“ nun den Nahen und Mittleren Osten auf Deutschland und die EU orientieren.
Zu der Einflusspolitik Deutschlands in der Region gehören die Kriegseinsätze der Bundeswehr. Deren Zahl hat deutlich zugenommen: Mittlerweile operieren deutsche Soldaten im Irak, in Syrien, im Libanon und im Mittelmeer, außerdem in Mali. Eine weitere Intervention in Libyen schließt Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) nicht aus.
Bei seiner Einflusspolitik bedient sich Deutschland aber genauso auch Mitteln der Gesellschaftspolitik. So unterhält die Bundesregierung breit angelegte Programme mit Stipendien für Studierende aus Syrien. Eines davon heißt „Leadership for Syria“ und richtet sich an „eine ausgewählte Elite zukünftigen syrischen Führungspersonals“, so die Ausschreibung für das Programm. Die Stipendiaten belegen Kurse in „Regierungsführung“, Organisationsaufbau und ähnlichen Gebieten. Sie müssen sich verpflichten, nach dem Ende des Krieges nach Syrien zurückzukehren.
Bisher war es nur den ehemaligen Kolonial- und Mandatsmächten der arabischen Länder gelungen, die Eliten dieser Länder kulturell an sich zu binden. Nun könnte Deutschland mit den verschiedenen Mitteln der Einflusspolitik diesen Vorsprung der Konkurrenz aufholen und – im Fall Syriens – zum kulturellen Bezugspunkt Nummer Eins für das Establishment des ganzen Landes werden.
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Wie in jedem Jahr treffen sich am kommenden Wochenende bei der so genannten „Sicherheitskonferenz“ in München Militärs, Konzernvertreter und Politiker, um sich über Ziele und Mittel der imperialistischen Politik auszutauschen. Der Leiter dieser Konferenz, Wolfgang Ischinger, hat erst kürzlich auf den geostrategischen Hintergrund verwiesen, den die deutsche Einflussnahme im Nahen Osten hat. Er rief in Erinnerung: Schon in ihrer ersten „Sicherheitsstrategie“ von 2003 habe sich die EU das Ziel gesteckt, jenseits ihrer Grenze einen „Ring gut regierter Staaten“ zu schaffen. Tatsächlich gilt ein stabiles regionales Umfeld als strategisch höchst vorteilhaft, um bei globalen Machtoperationen über eine sichere Basis zu verfügen. Dieses Ziel, räumt Ischinger ein, habe man bisher in Nordafrika und im Nahen und Mittleren Osten kräftig verfehlt. Vielmehr schlügen die Unruhen und Kriege im Ring um Europa nun sogar auf Deutschland und die EU zurück. Nun müsse es darum gehen, „eine Sicherheitsarchitektur“ für die gesamte Region zu schaffen – dazu gehöre der „Einsatz aller finanziellen und entwicklungspolitischen Mittel“ genauso wie ein „umfassendes Angebot an militärischer Zusammenarbeit“.
Der deutsche Imperialismus stellt seine Einflusspolitik im Nahen Osten immer breiter auf – und auch dabei versucht er, aus den Flüchtlingsströmen seinen eigenen Nutzen zu ziehen.