Justin Pemberton verfilmt Pikettys „Kapital im 21. Jahrhundert“

Großer Anspruch

Von Klaus Wagener

Der Titel des Films wie des 2013 erschienenen Buches ist anspruchsvoll. Das Thema ist es auch. „Das Kapital“ erinnert an Karl Marx. Es geht um das wichtigste Thema der Gegenwart. Der Zusatz „im 21. Jahrhundert“ verspricht, sich dem Hier und Heute zuzuwenden. Versuchen wir das: 2007 platzte eine gewaltige Spekulationsblase. Zunächst an der Wall Street und an der Londoner City. Dann breiteten sich ihre Schockwellen ebenso über den Globus aus, wie sich zuvor die hysterisch gehypten, nun toxisch genannten Zockerpapiere ausgebreitet hatten. Zugleich aber platzte das Märchen vom krisenfreien Kapitalismus. Die neoliberale Gegenreformation hatte nach drei Jahrzehnten ihren Zenit überschritten.

Seither hängt der Kapitalismus des „wertebasierten“ Westens am Tropf der großen Zentralbanken. Sie produzieren die Billionen von Dollar, Euro, Yen und Pfund, ohne die die überschuldeten Blasenökonomien des Westens längst zusammengebrochen wären. Es kann, um im Bild zu bleiben, die Blase nur dadurch aufrechterhalten werden, dass mit aller Kraft mit „Fresh Money“ nachgeblasen wird.

Im Gegensatz zu den toxischen Papieren der Finanzindustrie ist das Geld der Zentralbanken real. Es verschwindet auch nicht, sondern landet auf den Konten eben jener berüchtigten 0,1 Promille, denen ohnehin fast alles in den Gesellschaften des „Westens“, inklusive des politischen Personals, gehört. Und mit der Massenproduktion kostenlosen Geldes steigen nicht nur die Kontostände der 0,1 Prozent, sondern auch die Schulden der Staaten, der Unternehmen, der 99,9 Prozent. Und im selben Maße verfallen die Infrastruktur, die Sozialsysteme, das Gemeinwesen, der gesellschaftliche Zusammenhalt. Ein Zustand, der nicht auf Dauer durchzuhalten ist. Schon allein deswegen, weil diese zerfallenden Gesellschaften den großen gesellschaftlichen Herausforderungen wie dem Klimawandel nicht adäquat zu begegnen in der Lage sind.

Stoff genug für eine gründliche Analyse. Wie schon das Buch, erfüllt auch der Film diese Hoffnung nicht wirklich. Buchautor und Mitregisseur Thomas Piketty hält es offensichtlich für notwendig, dem antikommunistischen Götzendienst gleich zu Anfang Genüge zu tun. Er reduziert den Jahrhundertkampf um eine Alternative zum Kapitalismus auf einige geplünderte Regale aus der Wendephase oder auf Rangeleien der Volkspolizei im Herbst 1989, um das „völlige Scheitern“ des Sozialismus zu belegen. Das ist mehr als lächerlich. „Das Kapital“, das zu untersuchen er sich vorgenommen hat, hat in seiner Jahrhunderte alten Geschichte ganze Kontinente verwüstet, zig Millionen Menschen verhungern lassen, weit mehr als 100 Millionen Menschen umgebracht. Der Kapitalismus, da lässt schon Karl Marx keinen Zweifel, ist bei allem historischen Fortschritt an Destruktivkraft nicht zu überbieten. Und Marx hatte die Weltkriege nicht erlebt. Jedenfalls ist nach wenigen Filmmetern klar: Es geht hier nicht unbedingt um nüchterne wissenschaftliche Analyse.

Und tatsächlich bleibt der Film über lange Strecken rein deskriptiv. Er geht weit in die feudale Vergangenheit zurück und zeigt uns dann: Man hat dies gemacht oder man hat jenes gemacht. Dann ist dies passiert, jenes passiert. Aber eine innere Logik, eine sozialökonomische Begründung, warum die Dinge so passieren, wie sie passieren, gibt uns weder der Film noch das Buch. Dafür gibt es reichlich „Talking Heads“, eingeblendete Kommentatoren, die, wie auch Piketty, ihre zum Teil recht unterschiedlichen Thesen zum Gesehenen verkünden. Diese Unart einiger Dokumentarfilme schafft weder ein besseres Verständnis noch eine schlüssige, kohärente Argumentation. Sie ist allenfalls Ausdruck eines postmodernen Relativismus, der keine „Großen Erzählungen“ mehr kennen will.

Im Buch liefert Piketty reichlich Statistik für seine zentrale These, dass sich die Kapitalakkumulation schneller vollzieht als die Lohnentwicklung. Er wiederholt die These im Film. Karl Marx wusste auch, warum das so ist. Piketty liefert diese theoretische Ableitung nicht. Außer einer Warnung vor der Revolution. Es gebe dann Aufstände der zu kurz Gekommenen. Fazit: Der Kapitalismus solle es doch bitte nicht übertreiben. Man müsse da doch vielleicht etwas Reichtum wegsteuern. Das ist nicht falsch, aber angesichts der neoliberalen Zustände reichlich wenig. Die zunehmenden Aufstände gegen die Ausplünderung, die sich in der letzten Zeit über den ganzen Globus ausbreiten, zeigen, dass diese Menschen weit mehr begriffen haben: Ohne Kampf gibt es nichts. Piketty, und das gilt auch für Justin Pemberton, sind, wie man so sagt, hinter der Kurve zurückgeblieben.

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"Großer Anspruch", UZ vom 1. November 2019



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