Deutschland scheint ein „Land der Blaumacher“ zu sein. Zumindest könnte man den Eindruck gewinnen, wenn man die Äußerungen neoliberaler Ideologen für bare Münze nimmt. So behauptete beispielsweise Oliver Bäte in einem Interview in der „WirtschaftsWoche“, Arbeitnehmer seien hierzulande im Schnitt zwanzig Tage pro Jahr krank, während der EU-Schnitt bei acht Krankheitstagen liege. In der Konsequenz fordert der Vorstandsvorsitzende des Allianz-Konzerns, Beschäftigten am ersten Tag einer Krankmeldung keinen Lohn mehr zu zahlen.
Unterstützung erhält Bäte bei seinem Angriff auf die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, die in einem mehrmonatigen Streik erkämpft wurde, von der Chefin der Wirtschaftsweisen, Monika Schnitzer, dem Wirtschaftslobbyisten Bernd Raffelhüschen, der Springerpresse und einer ganzen Reihe weiterer Milton-Friedman-Jünger.
Für sie spielt es keine Rolle, dass die Mär von angeblich ausufernden Krankmeldungen längst durch den aktuellen Gesundheitsreport des BKK-Dachverbands der Betriebskrankenkassen widerlegt wurde. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) sieht ebenfalls keinen erhöhten Krankenstand in Deutschland – weder bei einem Vergleich mit anderen EU-Staaten noch im Zeitverlauf.
Daher hat Hans-Jürgen Urban, Vorstandsmitglied der IG Metall, mit seiner Kritik recht: „Wer Karenztage aus der Mottenkiste holt, greift die soziale Sicherheit an und fördert verschleppte Krankheiten. Auch der Deutsche Gewerkschaftsbund warnt vor einer zunehmenden Tendenz bei Beschäftigten zum „Präsentismus“.
Tatsächlich besteht das eigentliche Problem nicht darin, dass Kolleginnen und Kollegen gesund zu Hause bleiben, wie es der Vorstoß des Allianz-Chefs unterstellt, sondern dass viele Beschäftigte krank zur Arbeit gehen. Dies belegen Zahlen des „DGB-Index Gute Arbeit“. Die repräsentative Beschäftigtenbefragung kommt zu dem Ergebnis, dass schon vor Corona etwa 70 Prozent der Beschäftigten angaben, mindestens einmal im Jahr krank zur Arbeit erschienen zu sein und im Durchschnitt fast neun Arbeitstage pro Jahr trotz Erkrankung gearbeitet zu haben.
Wer es mit niedrigeren Krankenständen ernst meint, muss daher, statt mit Karenztagen die Lohnkosten zu senken, den betrieblichen Gesundheitsschutz stärken und für gute, nicht krank machende Arbeitsbedingungen sorgen.