Die Südostasienreise, die der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell vergangene Woche absolvierte, musste pandemiebedingt deutlich reduziert werden. Borrell hatte ursprünglich einen Auftritt beim Shangri-La Dialogue in Singapur eingeplant. Die Veranstaltung, die jedes Jahr vom Londoner International Institute for Strategic Studies (IISS) durchgeführt wird, wird zuweilen als asiatische Parallele zur Münchner Sicherheitskonferenz eingestuft. Borrell hätte dort die Gelegenheit gehabt, mit US-Verteidigungsminister Lloyd Austin zusammenzutreffen. Singapur sagte den Shangri-La Dialogue allerdings wegen eines starken Aufflackerns der Pandemie kurzfristig ab. Genausowenig konnte Borrell die Philippinen bereisen: Auch dort macht die Pandemie Besuchsaufenthalte zur Zeit unmöglich. Um seine Reise nicht gänzlich abblasen zu müssen, traf Borrell am Dienstag vergangener Woche für vier Tage in Indonesiens Hauptstadt Jakarta ein. Dort führte er Gespräche mit Präsident Joko Widodo, Außenministerin Retno Marsudi und Verteidigungsminister Prabowo Subianto. Darüber hinaus fand er sich zu Gesprächen im Hauptquartier des südostasiatischen Staatenbundes ASEAN ein, das in Jakarta angesiedelt ist.
Hintergrund von Borrells Reise war ausdrücklich die globale Kräfteverschiebung hin zum Pazifik, die Europa – jahrhundertelang globaler Mittelpunkt der technologischen und der ökonomischen Entwicklung sowie Expansionszentrum über die gesamte Welt ausgreifender Kolonialmächte – an den Rand der Weltpolitik zu rücken droht. Der EU-Außenbeauftragte verdeutlichte dies mit der Feststellung, der „Indo-Pazifik“ schaffe 60 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung und erarbeite zwei Drittel des globalen Wachstums. In der Tat befindet sich in der Region mittlerweile das größte Freihandelsbündnis der Welt (RCEP, Regional Comprehensive Economic Partnership), das neben ASEAN China, Südkorea und Japan sowie Australien und Neuseeland umfasst und für annähernd ein Drittel der Weltbevölkerung und ein Drittel der globalen Wirtschaftsleistung steht – mit unvermindert steigender Tendenz. Experten schreiben dem RCEP das Potenzial zu, globale Standards zu setzen. „Die Geschichte der Menschheit des 21. Jahrhunderts wird in der Indo-Pazifischen Region geschrieben“, diagnostizierte Borrell in Jakarta: „Das Gravitationszentrum der Welt liegt nicht mehr mitten in Europa.“ Dem müsse die EU nun umgehend Rechnung tragen.
Entsprechend dringt Borrell darauf, die EU – „zu oft mit uns selbst und mit unserer Nachbarschaft beschäftigt“ – müsse in Südostasien deutlich mehr Präsenz zeigen. Bei seinem jetzigen Besuch in Jakarta hatte der EU-Außenbeauftragte mit hausgemachten Problemen zu kämpfen. So hält der Streit um den Import von Palmöl aus Indonesien und Malaysia, das als Basis für Biokraftstoffe genutzt wird, an. Das Europaparlament hat sich klar gegen die Nutzung von Palmöl als Kraftstoff ausgesprochen, da bei dessen Produktion soziale und Umweltstandards oft schwer verletzt werden; auch hat die EU 2019 einen Importzoll auf indonesischen Biodiesel wegen angeblich unzulässiger Subventionen erhoben. Jakarta geht bei der WTO dagegen vor und beschwert sich über „grünen Neokolonialismus“ der europäischen Mächte. Borrell sah sich nun genötigt zu bekräftigen, die EU sei „nicht gegen Palmöl“. Darüber hinaus erörterte der EU-Außenbeauftragte mit seinen Gesprächspartnern in Indonesien den Kampf gegen die Pandemie. In dem Land wird, wie auch sonst in Südostasien, sehr genau registriert, dass die reichen Mächte des Westens, darunter die EU, die meisten verfügbaren Impfstoffe wegkaufen – und dass deshalb für ärmere Länder wenig übrig bleibt. Indonesien etwa bekam AstraZeneca-Dosen aus Indien; seit deren Ausbleiben ist es gänzlich auf chinesische Vakzine angewiesen.
Nach seiner Rückkehr fordert Borrell außer erneuten Bemühungen um ein Freihandelsabkommen mit Indonesien – die EU unterhält solche Abkommen innerhalb von ASEAN bisher lediglich mit Singapur und mit Vietnam – insbesondere entschlossenere außen- und militärpolitische Aktivitäten in der Region. „Wenn wir ein geopolitischer Akteur sein wollen, müssen wir auch als politischer und als Sicherheitsakteur in der Region wahrgenommen werden“, erklärte der Außenbeauftragte – und gab bekannt: „Wir sind dabei, Optionen zur Ausweitung der maritimen Präsenz der EU im riesigen indo-pazifischen Raum zu erkunden.“ Kriegsschiffe Frankreichs sowie des außen- und militärpolitisch weiterhin eng mit der EU kooperierenden Vereinigten Königreichs sind immer häufiger mit Übungsfahrten sowie Manövern im Indischen und im Pazifischen Ozean präsent. Auch die Bundeswehr verstärkt ihre Anstrengungen: Sie wird Kampfjets nach Australien und eine Fregatte in den Pazifik entsenden. Zur Vorbereitung hielt sich Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer Ende Mai in Südkorea auf: Die Fregatte „Bayern“ soll – nach gemeinsamen Übungen mit den japanischen Streitkräften – eine Zeitlang an der Überwachung der UN-Sanktionen gegen Nordkorea teilnehmen.
Nach ihren Gesprächen in Seoul reiste Kramp-Karrenbauer als erste bundesdeutsche Ministerin zu Gesprächen nach Guam. Guam ist ein Außengebiet der Vereinigten Staaten, das unter anderem eine Marine- und eine Luftwaffenbasis beherbergt. Die Andersen Air Force Base, die Kramp-Karrenbauer besuchte, gilt als einer der bedeutendsten US-Militärstützpunkte in der Asien-Pazifik-Region sowie im Falle eines Krieges in Asien nicht nur als wichtige Brücke für den US-Nachschub, sondern auch als Startpunkt für US-Langstreckenbomber. Auf ihrer Asienfahrt wird die Fregatte „Bayern“ auch auf Guam erwartet. Die Insel hat unter US-Militärstrategen zuletzt größere Aufmerksamkeit erhalten, weil Kriegssimulationen – sogenannte „war games“ – ergeben haben, dass China im Kriegsfalle mit seinen zahlreichen Abwehrraketen wohl in der Lage ist, Landebahnen auf Guam und sonstige Einrichtungen dort mit seinen Abwehrraketen zu zerstören und dadurch US-Angriffe auf chinesisches Territorium zu verhindern. Um dennoch ungehindert Angriffe führen zu können, sieht der neue US-Militärhaushalt umfangreiche Mittel zur Errichtung von High-Tech-Abwehrsystemen auf der Insel vor. Kramp-Karrenbauer besuchte Ende Mai, von der deutschen Öffentlichkeit kaum beachtet, mit Guam also ein potenzielles Schlachtfeld in einem drohenden Krieg der Vereinigten Staaten gegen China.