Wie können Mahnmale eindringlich an vergangene Schrecken erinnern? Wie vermögen sie die Grauen der Vergangenheit lebendig und relevant zu erhalten? Micha Ullmanns Berliner Mahnmal zur Erinnerung an die faschistische Feuernacht, in der vor neunzig Jahren, am 10. Mai 1933, 20.000 Werke einer Vielzahl deutscher und internationaler humanistischer Autoren vor einer begeisterten Menge von den Flammen verschlungen wurden, erfüllt diese Anforderungen.
Ullmanns Mahnmal befindet sich auf dem Berliner Bebelplatz – genauer gesagt, unter ihm. Es ist von der Straße aus tagsüber nicht zu sehen – bei Dunkelheit wird es durch ein ewiges Licht erhellt. Das Mahnmal ist ein sieben Quadratmeter großer, gute fünf Meter hoher, kalkweiß verputzter Raum, dessen Seiten von leeren, wiederum weißen Holzregalen gesäumt sind. Sie könnten 20.000 Bücher umfassen. Ullmann demonstriert hier den Verlust – Verlust an Wissen, Erfahrung, Kunst, Vergnügen. Die Leere reflektiert geistiges Vakuum.
Betrachten kann man den Raum von oben herab durch eine 1,20 Quadratmeter große Scheibe, die in das Pflaster des Platzes eingelassen ist. Tagsüber spiegeln sich Sonne, Wolken und auch Menschen in der Scheibe und es bedarf einer gewissen Anstrengung und Konzentration, durch die Scheibe hindurch die leeren Regale zu erkennen. Doch das ist Teil der künstlerischen Konzeption. Sich der Geschichte zu nähern, sie zu begreifen, braucht Mühe. Die Scheibe wird zu einem Schnittpunkt von Gegenwart und Geschichte – das Heute spiegelt sich in dieser Glasplatte, die gleichzeitig eine durchsichtige Grabplatte wird, Zugang zur Vergangenheit schafft. Fast schwindelig möchte es dem Betrachter werden, erscheint die Glasscheibe doch auch zerbrechlich – könnte man hier in die Historie einbrechen? Diese Schnittstelle zwischen Vergangenem und Gegenwart stellt auch ein Ineinander der Privatsphäre einer Bibliothek und der Öffentlichkeit der historischen Berliner Mitte, von Innen und Außen, von Wirklichkeit und durch das Mahnmal evoziertem Imaginiertem. Neben einem Grab assoziiert die leere Bibliothek auch einen geschützten Raum. Außer dem offenbaren Verlust füllt die Fantasie die Regale wieder mit den verbrannten Büchern auf und bewahrt sie an einem sicheren Ort, einem Bunker gleich, an jener Stelle, an dem das Unfassbare geschah. So fungiert das ewige Licht, das die Erfassung des Mahnmals bei Dunkelheit erleichtert, auch zweifach: als das ewige Licht des Gedenkens wie auch als Energiequelle, wo Erschütterung sich in Einsicht und Widerstand verwandeln kann.
Micha Ullmanns Familie floh schon 1933 aus dem thüringischen Dorndorf nach Palästina, wo er 1939 in Tel Aviv geboren wurde. Seiner Grundidee für das Berliner Mahnmal liegt eine Symbolik zugrunde, die für ihn geradezu werkbegleitend ist. Ein weiteres Denkmal, das auf der Aushebung einer Grube beruht, ist seine erste große Arbeit „Messer/Metzer“ von 1972. Gemeinsam mit palästinensischen und israelischen Jugendlichen tauschte Ullmann symbolisch die Erde zwischen dem arabischen Dorf Messer und dem jüdischen Kibbutz Metzer aus, Nachbarorte, deren Namen jeweils in Arabisch und Hebräisch beide das Gleiche bedeuten: Grenze. An beiden Orten wurden gleich große Gruben ausgehoben und mit der Erde des jeweils anderen Dorfes aufgefüllt. Auch hier war an der Oberfläche kaum etwas wahrnehmbar. Auch hier sind die Betrachter herausgefordert: Sie müssen sehen, sich dem Erzählten nähern und verstehen wollen.
Wichtig an dem Berliner Mahnmal ist die Betonung der Anfänge. Die Bücherverbrennung kündigte das Unvorstellbare an. Dem Mahnmal beigefügt sind Tafeln mit Heines prophetischen Worten aus seiner Tragödie „Almansor“: „Dies war ein Vorspiel nur, dort, wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende auch Menschen. (Heinrich Heine 1820)“ Vergessen sollte man auch nicht, dass es gerade die sogenannte Intelligenz war, die die Bücherverbrennung durchführte, Studenten und ihre Professoren, auch Bibliothekare und der Buchhandel. Mit dieser Feuertat wurde auch geistig dem Faschismus rasant der Boden bereitet. Wie schnell verlieren angeblich kultivierte und gebildete Leute ihre Fassade und enthüllen ihre wahren Fratzen. Dieses Phänomen ist uns heute wieder allgegenwärtig. Die Gleichschaltung droht wiederzukehren, wo ein vom Establishment unabhängiges Denken unterdrückt und unter Strafe gestellt wird.
Vielleicht sollte an dieser Stelle zweier Bücher gedacht werden, die für viele stehen. „Die Gefährten“ (1932), ein früher Roman Anna Seghers’, und Erich Kästners „Fabian“ (1931). In Anna Seghers’ Werk geht es um die Unbeugsamkeit von Kommunisten, um den proletarischen Internationalismus. In voneinander unabhängigen Handlungssträngen erzählt sie von Menschen, die einander nicht kennen und dennoch Gefährten sind – den gleichen Kampf gegen den gleichen Feind führen. In Figuren aus Bulgarien, Polen, Ungarn, Italien und China ist die Erzählerin bemüht, die persönlichen Eigenschaften darzustellen, die diesen Menschen ihren Heroismus ermöglichen, wenngleich der politische Kampf unter den Gegebenheiten der Zeit auf Kosten ihrer familiären Situation absoluten Vorrang erhält. Noch vor der Machtergreifung Hitlers entstanden, geht es um Länder wie das China Tschiang Kai-sheks oder um das Ungarn Miklós Horthys, wo die Fronten klar waren und die Parteiarbeit bereits einen Kampf um Leben und Tod bedeutete. In ihrem reiferen, durch die Erfahrung des Exils und deutschen Faschismus geprägten Werk sollte sich das noch ändern und Seghers entdeckte die Kraft der Schwachen in den breiteren Volksschichten.
Kästners Fabian hingegen ist nicht aktiv an diesem Kampf beteiligt. Auch dieser Roman entstand vor der Nazi-Diktatur und ist in der damaligen Gegenwart der letzten Jahre der Weimarer Republik angesiedelt. Zwar distanziert Fabian sich von den aufkommenden deutschen Faschisten, versteht sich als Freund der Kommunisten, doch setzt er auf den Sieg der „Anständigkeit“. In seinem Vorwort zur Neuauflage des Romans von 1950 beschrieb Kästner sein Ziel, auf den Abgrund hinzuweisen, auf den sich Deutschland zubewegte. Der Roman kritisiert vor allem die Passivität derjenigen, die die sozialen Verhältnisse erkannt haben, aber nichts unternehmen, um diese zu ändern. Gerade dies ist heute ein Thema von größter Relevanz.