Seit Kurzem fordern selbst namhafte Ampel-Größen wie Robert Habeck (Grüne) eine „Aufarbeitung“ der Corona-Politik. „Ich denke, wir sollten den Mut haben“, sagte er der „Bildzeitung“. Entsprechend mutig schritt dann auch Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) voran: „Ich war damals, als die wichtigen Entscheidungen getroffen worden sind, nur beratend tätig“, stellte er im „Deutschlandfunk“ klar. Im Wesentlichen gehe es jetzt „um die Bewertung der Arbeit meines Vorgängers“. Der Vorgänger Jens Spahn (CDU) hatte kürzlich genauso wie Lauterbach Post vom Bundesrechnungshof erhalten. Spahn wird eine „massive Überbeschaffung von Schutzmasken“ vorgeworfen: 5,7 Milliarden Stück. Allein die Verwaltung des noch existierenden Überschusses kostete im vergangenen Jahr 460 Millionen Euro. Lauterbach soll den Auftrag für eine Impfkampagne unrechtmäßig an die Agentur Brinkert-Lück vergeben haben, die zuvor die Wahlkampagne des Kanzlerkandidaten Olaf Scholz (SPD) organisiert hatte.
Für die Profiteure der kleinen und der großen Deals mit Masken, Testzentren und Impfstoffen waren es Goldgräberjahre. Die anderen erlebten nicht nur die Sorge vor der Pandemie, sondern auch die massivsten Grundrechtseinschränkungen seit Bestehen der BRD. Während in den Regierungssitzen und Konzernzentralen Wildwestzustände herrschten, wurde das Leben der Bevölkerung einer neuen Ordnung unterworfen und die Diskussion darüber im Keim erstickt.
Diese toxische Mischung aufzuklären dürfte nicht im Interesse der herrschenden Parteien sein. Dass sie nun dennoch nach Aufarbeitung schreien, gleicht eher einer Flucht nach vorn. Denn die Medienwelt beschäftigte sich in den vergangenen Tagen intensiv mit der Veröffentlichung von mehr als 200 Protokollen des „Krisenstabs Neuartiges Corona-Virus (COVID-19)“ beim Robert-Koch-Institut (RKI). Das Magazin „Multipolar“ hatte die Herausgabe der Papiere eingeklagt und im vergangenen Jahr in zensierter Form erhalten.
Allein das Dokument, in dem die geschwärzten Passagen aufgezählt und begründet sind, ist mehr als 1.000 Seiten dick. Herausgestrichen wurde beispielsweise der Name einer Person, die laut Protokoll „das Signal“ für eine Hoch-skalierung der Risikobewertung geben sollte. Der geschwärzte Name nährte die Spekulationen darüber, ob diese Beurteilungen nach wissenschaftlichen Maßstäben oder auf Zuruf von politischen Akteuren vorgenommen wurden. Das RKI erklärte nach der Veröffentlichung, dass es sich um einen internen Mitarbeiter handele. Schlauer wird man durch diese Erklärung nicht, auch nicht dadurch, dass hunderte Passagen mit der Begründung geschwärzt sind, dass sie Einzelheiten der „behördlichen Entscheidungsfindung“ verraten würden. Gerade darum sollte es bei der Aufklärung des Komplexes doch gehen.
Ein weiterer Knackpunkt der bisherigen Berichterstattung ist, dass der Krisenstab Zweifel an der Impfung mit AstraZeneca hatte. Der Krisenstab regte demnach Beschränkungen für ältere Personen an, bevor die vollständige Freigabe durch die Ständige Impfkommission erfolgte und es zu erheblichen Nebenwirkungen kam. Ebenfalls kritisch zeigte sich der Krisenstab bei dem Vorhaben, Geimpfte von bestimmten Beschränkungen zu befreien. Das sei „fachlich nicht begründbar“, heißt es in den Protokollen. Wenig später kam die 3G-Regel.
Die Pandemiepolitik führte zu einer tiefgreifenden Spaltung der Bevölkerung, Risse zogen sich selbst durch Familien. Politik und Medien verstehen es bis heute, diese Risse zu nutzen und – beispielsweise in der Friedensbewegung – zu vertiefen. Die Überwindung dieser Spaltung bedarf eines Verständigungsprozesses auf einer gemeinsamen Grundlage. Eine umfassende Aufklärung zu fordern, kann ein gemeinsamer Akt derer sein, die durch diese Politik auseinandergetrieben wurden.