Der NATO-Stellvertreterkrieg in der Ukraine und Israels Krieg in Gaza haben das „Potential“, zum Weltenbrand ausgeweitet zu werden. Die USA und ihre NATO-Verbündeten wehren sich gegen den Abstieg in die Bedeutungslosigkeit. Noch nie stand die Welt so kurz vor dem Dritten Weltkrieg wie heute. In Deutschland treibt die Bundesregierung die Militarisierung voran, baut demokratische Rechte ab und greift die Meinungsfreiheit an.
In dieser Situation haben sich mehr als 350 engagierte Friedensaktivisten am 9. und 10. Dezember zum 30. Bundesweiten Friedensratschlag in Kassel getroffen. Die hohe Teilnehmerzahl sei „Ausdruck dafür, der Resignation nicht das Feld zu überlassen und durch eine inhaltliche, sachkundige und diskursive Auseinandersetzung über die Weltlage die Basis für Änderungen zum Besseren zu entwickeln“, erklärte Mitorganisator Willi van Ooyen anschließend.
Diese Auseinandersetzung begann Samstag Mittag mit vier Vorträgen im Plenum. Heinz Bierbaum, Vorsitzender der Rosa-Luxemburg-Stiftung, sagte, das von den USA und ihren Verbündeten vertretene Konzept der „regelbasierten Ordnung“ sei nur Ausdruck des westlichen Strebens nach Hegemonie. Während die NATO auf Konfrontation setze, stehe China für Kooperation.
Das gelte auch für Kuba, unterstrich Juana Martínez González. Ihr Land setze sich „für Konsensbildung und die Bündelung der Kräfte ein, damit die Stimme des Globalen Südens gehört wird“. Die Botschafterin des sozialistischen Landes kritisierte die Verletzung der Grundrechte der Palästinenser und der elementarsten Regeln des Völkerrechts scharf. Sie schloss mit einem Zitat Fidel Castros: „Für den Frieden zu kämpfen ist die heiligste Pflicht aller Menschen, welche auch immer ihre Religionen oder Herkunftsland, Hautfarbe, Erwachsenenalter oder Jugend seien.“
Özlem Alev Demirel, Abgeordnete der Linkspartei im Europaparlament, nannte das Veto der USA im UN-Sicherheitsrat gegen einen Waffenstillstand in Gaza „zynische Doppelmoral“. Es sei Fakt, dass Israel die Hamas mit Unterstützung der USA aufgebaut habe. Sie kritisierte die „Debattenkultur, in der der Kontext von Konflikten nicht mehr angesprochen werden darf“.
Jörg Kronauer setzte sich in seinem Vortrag mit „Deutscher Geopolitik zwischen Ambitionen und Scherbenhaufen“ auseinander. Der deutsche Imperialismus habe sich seine Dominanz über die EU bewahrt, obwohl diese von Frankreich in Frage gestellt werde. Ansonsten habe nichts geklappt, analysierte Kronauer und verwies auf Deutschlands Rolle auf dem Balkan, in Mali, Syrien und der Ukraine. 2013 habe der Think Tank Stiftung Wissenschaft und Politik in dem Papier „Neue Macht – Neue Verantwortung“ als Ziel ausgegeben, Deutschland müsse auf „Augenhöhe mit den USA“ kommen. Heute sei man auf Waffen der USA und deren teures Flüssiggas angewiesen. Dennoch sei die BRD kein Vasall der USA. Der deutsche Imperialismus sei ein Zweckbündnis mit den USA eingegangen, weil er China nicht alleine kleinhalten könne. Schon der Wirtschaftskrieg gegen Russland habe sich als Eigentor erwiesen, in dessen Folge günstige russische Energie als Grundlage der hiesigen Industrie weggefallen sei. Jetzt wende sich die Ampel-Koalition gegen China. „Da kann einem nur schwindelig werden.“
In bis zu sechs zeitgleich stattfindenden Workshops konnten die Teilnehmer dann tiefer in bestimmte Fragestellungen eintauchen. So zeichnete etwa Wolfram Elsner den sozialen Fortschritt in der Volksrepublik China nach. Lühr Henken fasste den aktuellen Stand in Sachen „Dark Eagle“, der US-Hyperschallwaffe in Entwicklung, zusammen. Ab Mitte 2025 sei mit einer Stationierung in Deutschland oder anderswo in Europa zu rechnen. Verhindern lasse sich das nur mit hohem Druck aus der Bevölkerung. Jürgen Wagner von der Informationsstelle Militarisierung e. V. und Detlef Bimboes untersuchten die massive Aufrüstung der Europäischen Union. Die arbeite an strategischer Autonomie und wolle Kriege selbst beschließen und mit eigenen Waffen führen können.
Großen Zuspruch erfuhr der Workshop der Rechtsanwälte Rolf Gössner und Eberhard Schultz zur staatlichen Repression. Während der Corona-Pandemie seien praktisch alle Grundrechte eingeschränkt worden, legte Gössner dar. Das sei ohne die erforderliche demokratische Legitimation erfolgt. Es sei unabdingbar, diese Geschichte aufzuarbeiten, sagte er unter großem Applaus. Der Ausnahmezustand werde tendenziell zur Normalität. Verunsicherung und Angst würden als Herrschaftsinstrumente genutzt. Der Umbau des Staates in einen „präventiven Überwachungsstaat“ laufe beschleunigt. Dieser Begriff greife zu kurz, fand Schultz. Er spreche von einem „autoritären Hochsicherheitsstaat“. Als Beispiel nannte er die massive Repression gegen die Solidaritätsbewegung mit Palästina. Schultz kritisierte die Verschärfung des Paragraphen 130 Strafgesetzbuch per Huckepack-Verfahren. Die DKP hat dagegen Verfassungsbeschwerde eingelegt. Das Vorstandsmitglied der Internationalen Liga für Menschenrechte plädierte dafür, die Zusammenhänge zwischen der massiven Aufrüstung, Repression und sozialen Fragen in den Vordergrund zu stellen.
Detailliert und mit vielen Beispielen zeichneten Sabine Schiffer und Ekkehard Sieker nach, wie es den Kriegstreibern gelingt, kritische Stimmen fast vollständig aus den bürgerlichen Medien zu verdrängen. Die Verwirrung, die durch die Unterdrückung wesentlichen Wissens mittels Strategischer Kommunikation entstehe, sei „hybride Kriegsführung“, so der Fernsehjournalist Sieker. Schiffer leitet das Institut für Medienverantwortung in Berlin. Ohne Gegenstimme gebe es keine gelungene PR, weshalb die Friedensbewegung aufpassen müsse, nicht ungewollt Teil der Diskursstrategie von Kriegstreibern zu werden. Das sei etwa 2003 passiert, als die Diskussion um die Frage gekreist sei, welch „schlimmer Diktator“ Saddam Hussein sei. Damals sei es der Friedensbewegung nicht gelungen, den Blick stattdessen auf die geostrategischen Interessen der USA und Britanniens zu lenken. Schiffer zeigte auf, wie das Reut Institute in Tel Aviv maßgeblich daran mitwirkte, den Antisemitismusbegriff neu zu besetzen, um jegliche Kritik an Israel zu verhindern. Das Institut habe dafür auch manche „linke Gruppen“ in Deutschland eingebunden.
Weitere Workshops am Samstag Abend befassten sich mit der Atomkriegsgefahr, erwünschter und unerwünschter Migration, dem Krieg in Gaza, der Friedensbewegung in Zeiten der Umweltkrisen sowie der Präsenz der Bundeswehr in Schulen und universitärer Forschung.
Der zweite Tag des Friedensratschlags begann mit einem Plädoyer der Journalistin Gabriele Krone-Schmalz für Frieden und Zusammenarbeit mit Russland. Aktive Gewerkschafter diskutierten im Workshop mit Anne Rieger, wie die Friedensbewegung stärker in den Gewerkschaften wirken kann. Die vielen ver.di-Fahnen auf der Friedensdemonstration am 25. November in Berlin wertete die Ko-Sprecherin des Bundesausschusses Friedensratschlag positiv. Man müsse in der Friedensbewegung als Gewerkschafter auftreten und in der Gewerkschaft als Friedensbewegung. Die horrenden Ausgaben für Rüstung bei hartem Sparkurs in sozialen Bereichen böten einen wichtigen Ansatz zur Mobilisierung der Kollegen.
Die Diskussionsstränge des Wochenendes wurden in der abschließenden Podiumsdiskussion zusammengeführt, moderiert von Reiner Braun. Vorsichtiger Optimismus klang in den Beiträgen von Medea Benjamin und Alain Rouy an. Die US-amerikanische Friedensaktivistin Benjamin verwies in ihrer Video-Grußbotschaft darauf, dass die Mobilisierung gegen Israels Krieg in Gaza leichter falle als die gegen den Stellvertreterkrieg gegen Russland in der Ukraine. Zwei Drittel der US-Bevölkerung unterstützten die Forderung nach einem Waffenstillstand in Gaza. Die Stärke der Friedensbewegung in den USA führe dazu, dass sich die „Tonlage der Regierung“ langsam ändere. So gebe es jetzt vorsichtige Mahnungen an Israel, das Völkerrecht zu achten, und erstmals knüpften die USA ihre Unterstützung Israels an Bedingungen.
Alain Rouy sprach als Vertreter der französischen Friedensbewegung. In Frankreich habe es bislang noch keine große Friedensdemonstration wie die in Berlin am 25. November gegeben, allerdings gebe es noch in den kleinsten Städten Druck auf Politiker, die Kriege auf diplomatischem Weg zu beenden. Dieser Druck habe dazu geführt, dass Frankreich im UN-Sicherheitsrat für einen Waffenstillstand in Gaza stimmte. Rouy betonte, der anstehende EU-Wahlkampf müsse genutzt werden, um die Friedensfrage prominent in die Öffentlichkeit zu tragen. Die multipolare Weltordnung sei eine „Kultur des Friedens in Aktion“. Es sei schön zu hören, dass die aufstrebenden Länder des Globalen Südens zunehmend ihre Stimme erheben.
Deutlicher wurde die Bundestagsabgeordnete Sevim Dagdelen. Der Globale Süden habe die Schnauze voll von westlicher Doppelmoral. Mit seiner Hintertreibungspolitik habe der Westen sich global isoliert. Europa müsse aufpassen, nicht völlig ignoriert zu werden. Das müsse die Friedensbewegung publik machen. „Es braucht ein Bündnis von Arbeiterklasse und Globalem Süden gegen eine Politik der Gewalt, der Unterdrückung und des Neokolonialismus.“ Die Friedensbewegung habe weltweit viele Bündnispartner, müsse internationale Stimmen hörbar machen und auf die Gewerkschaften zugehen, um gegen den sozialen Krieg nach innen zu kämpfen.
Er schaue optimistisch ins neue Jahr, schloss Reiner Braun, denn: „Global sind wir die Mehrheit“.
Die Notwendigkeit internationaler Vernetzung ist auf dem 30. Friedensratschlag sehr deutlich geworden. Hoffnung macht auch die weitgehende Einigkeit der deutschen Friedensbewegung in vielen grundlegenden Fragen. Die nämlich ist in Kassel immer wieder sichtbar geworden.
Klar sind auch die wichtigsten Aufgaben der Friedensbewegung, die jetzt anstehen: Aufklärungsarbeit leisten, den Schwung der Demonstration vom 25. November in Berlin für die Vorbereitung der Ostermärsche nutzen – und die Kolleginnen und Kollegen aus den Gewerkschaften für den Friedenskampf mobilisieren.
Der 31. Bundesweite Friedensratschlag findet am 30. November und 1. Dezember 2024 in Kassel statt.
Wir haben die Abschlusserklärung des 30. Friedensratschlags hier dokumentiert, und die Rede der Bundestagsabgeordneten Sevim Dagdelen hier.