Erst mit dem Ende der Ära Trump dämmert es selbst der deutschen Presse, dass mit dem Christlichen Nationalismus in den USA ein politisch hochwirksames Massenphänomen existiert. Der religiöse Wahn hat allerdings Konsequenzen, die auch die US-Bourgeoisie vor ein Dilemma stellt. Im Folgenden dokumentiert UZ Auszüge aus dem Beitrag „One Nation under God“ von Holger Wendt aus den neuen Marxistischen Blättern:
Die Verbreitung massiv irrationaler Positionen im US-amerikanischen Christentum steht in scharfem Kontrast zum lange gepflegten Bild der liberalen Supermacht. Während Religiosität an sich als ehrenwert erschien, wurde religiöser Wahn als Merkmal isolierter Randgruppen abgetan und entsprechend belächelt. Erst seit dem Ende der Präsidentschaft Donald Trumps dämmert es selbst der deutschen Presse, dass hier ein politisch hochwirksames Massenphänomen existiert. (…)
Während der christliche Bevölkerungsanteil in den USA langfristig sinkt, ist sein politischer Einfluss in den vergangenen Jahrzehnten stetig gewachsen. Interessierten Lobbyorganisationen gelang es zunehmend besser, rechtskonservative Kirchgänger zu radikalisieren und für ihre Zwecke zu mobilisieren. (…)
Die Naivität gläubiger Massen lässt sich in politischer Hinsicht gewinnbringender ausnutzen als allein mit teuer bezahlten Hoffnungen auf ein von Gott serviertes Stück vom Kuchen. Der Mainstream des religiösen Irrationalismus liegt auf einer Linie mit den Interessen der reaktionärsten Teile der US-Oligarchie. Dies zieht sich quer durch das gesamte Spektrum politischer Kontroversen.
Ob es um den uneingeschränkten Verbrauch fossiler Brennstoffe, die Förderung des Fracking oder den gewissenlosen Kauf völlig überdimensionierter Autos geht, nichts davon lässt sich wissenschaftlich rechtfertigen. Der christliche Nationalismus liefert demgegenüber ein ganzes Bündel passender Dogmen: „God is in control“ oder „Macht euch die Erde untertan“ sind darunter die harmlosesten. Der Glaube an das bevorstehende Weltende, knapp die Hälfte der US-amerikanischen Christinnen und Christen rechnet mit der Wiederkehr Christi innerhalb der nächsten 40 Jahre, lässt Sorgen um einen Wandel des Weltklimas als gegenstandslos erscheinen. Umweltschützerinnen und Umweltschützer gelten als Agenten im Dienst ausländischer Mächte oder gar als Teile eines satanischen Komplotts mit dem Ziel, die „One Nation under God“ zu zerstören.
Das Christentum macht den Kampf gegen Covid-19 überflüssig. Es genügt ein Exorzismus, wie er von Kenneth Copeland durchgeführt wurde: „Ich nenne dich besiegt. Ich nenne dich vergangen. Komm herunter von deinem Platz der Autorität, Zerstörer. (…) Du wirst nicht mehr durch Covid-19 zerstören. Es ist beendet. Es ist vorbei. Und die Vereinigten Staaten von Amerika sind geheilt und wieder gesund, sagt der mächtige Geist, der Frieden genannt wird und der auch der Kriegsfürst ist, der Herr Jesus Christus.“ Diese Worte wurden im März vergangenen Jahres gesprochen. Hinsichtlich des Rückganges der Infektionszahlen ist dergleichen kontraproduktiv, doch trug es dazu bei, die US-Bourgeoisie vor unliebsamen Einschränkungen ihrer Geschäftstätigkeit zu bewahren.
Die globale Dominanz der USA ist göttlich verbürgt. Wie einst das biblische Israel, so ist „Gods own country“ zur Führung bestimmt. Militarismus und permanente imperialistische Expansion sind somit christliche Pflicht. Gegenüber den liberaleren Varianten imperialistischer Herrschaftsideologie hat diese Richtung den Vorteil, keiner weiteren Begründung zu bedürfen. Wer dem religiös untermauerten Auserwähltheitswahn entgegensteht, ist nicht einfach politischer Gegner.
Er ist Feind der göttlichen Vorsehung, verschlagen, böse, von Dämonenbesessen. Und er bekommt es zu spüren, in Folterlagern, auf den Schlachtfeldern, als Ziel von Putschen und im Fadenkreuz der Drohnenkrieger. „Wir gegen die anderen“ ist außen- wie innenpolitisch das allgegenwärtige Thema, wobei „die anderen“ natürlich niemals die Angehörigen der superreichen christlichen Oligarchie sind. Mitleid mit Unterdrückten oder gar Klassensolidarität wird auf diese Weise wirkungsvoll verhindert, Hass und Verachtung in für die Herrschenden unschädliche oder nützliche Bahnen gelenkt. (…)
Wer auf die Unterstützung durch kirchliche Wohlfahrtsfonds angewiesen ist, ist gehalten, jede Arbeit anzunehmen und sich in jeglicher Hinsicht opportun zu verhalten.
Der christliche Nationalismus ist, glaubt man seinen Selbstdarstellungen, eine Bewegung von „einfachen gläubigen Amerikanern“, die sich gegen abgehobene korrupte Eliten zur Wehr setzen. Dieses Bild wurde, mit jeweils unterschiedlichen Schlussfolgerungen, sowohl von liberaler wie teilweise sogar von linker Seite übernommen. So verbreitet eine solche Sichtweise ist, so verzerrt ist sie. Zwar existiert, wie auch in europäischen rechtsextremen Strömungen, eine Massenbasis, deren Interessen denen der Oberschichten entgegengesetzt sind. Die tonangebenden Kräfte reaktionärer Bewegungen sind jedoch hier wie dort Fleisch vom Fleische des Blocks an der Macht. Hinter dem christlichen Nationalismus stehen Milliardäre, die Politik im Interesse von Milliardären machen. (…)
Das Bild, wonach „die“ US-amerikanischen Medien der evangelikalen beziehungsweise christlich-nationalistischen Bewegung skeptisch bis ablehnend gegenüberstünden, ist ebenfalls korrekturbedürftig. Mit Fox News steht der größte US-amerikanische Nachrichtensender, befindlich im Besitz von Rupert Murdoch, eindeutig hinter der Agenda der religiösen Rechten. Fox News ist nur die Spitze eines riesigen Eisberges konservativer Fernseh- und Radiostationen, die als dichtes Netz das Land überziehen.
Der religiöse Wahn hat Konsequenzen, die die US-Bourgeoisie vor ein schwerlich auflösbares Dilemma stellen. Der für die Aufrechterhaltung des imperialistischen Herrschaftssystems notwendige Irrationalismus gerät in Konflikt mit der Notwendigkeit, dessen technologische Grundlage aufrechtzuerhalten. Ideologische Gewinne werden durch reale Kosten kompensiert.
Die vorwiegend weltanschaulich motivierte Verschiebung des Bildungssystems in Richtung von religiösen Privatschulen oder gar von Home-Schooling mag als Beispiel dienen. Es spült einerseits christlichen Schulanbietern staatliches Geld in die Taschen, führt andererseits zu manifester Verdummung großer Teile der Schülerschaft. Geldgier und pädagogische Inkompetenz der Verantwortlichen sind dabei noch das kleinere Problem, verheerender ist eine bewusst herbeigeführte Senkung des fachlichen Niveaus. Davon sind nicht allein gesellschaftswissenschaftliche Fächer betroffen, im Bereich naturwissenschaftlicher Bildung entstehen ebenfalls gewaltige Lücken.
Unter der Prämisse einer Weltschöpfung vor sechs- bis zehntausend Jahren lassen sich große Teile des Schulstoffes nicht vermitteln, weder in Biologie noch in Erdkunde oder Physik. Die pseudowissenschaftlichen Alternativen, die der Wissenschaft von religiös-fundamentalistischer Seite entgegensetzt werden, verlangen den Verzicht auf Forscherdrang, Neugierde und kritisches Nachfragen. Glaube, Autorität und Denkverbote treten an die Stelle der Suche nach der Wahrheit. Der Widerspruch zwischen notwendiger Vermittlung intellektueller Fähigkeiten und ideologischer Konditionierung, der jedes bürgerliche Bildungssystem prägt, wird hier zugunsten der Letzteren aufgelöst. Dies nicht nur in der Schule. Neben dem christlichen Schulsystem existieren zahlreiche christliche Hochschulen, etwa die Liberty University, die Biola University, das Wheaton College oder das Hillsdale College. Ihre Absolventinnen und Absolventen mögen in Jura oder Musik noch hinreichend qualifiziert sein, für Fächer wie Pharmakologie oder Geologie sind sie unbrauchbar. Letztere Disziplinen werden allerdings benötigt, wenn es um die Entwicklung wirksamer Medikamente oder die Entdeckung von Ölquellen geht. Die Frage, wie eine industrielle Großmacht ihre globale Dominanz verteidigen soll, wenn sie einen Großteil ihrer Bevölkerung vor wissenschaftlicher Bildung abschirmt, bleibt unbeantwortet. Die Anzahl begabter Kinder, deren Talente zugunsten der Repetition überkommener Dogmen abgewürgt werden, geht in die Millionen. Der Preis ist hoch. Gemessen an der Zahl der Patente und der wissenschaftlichen Publikationen hat die VR China die USA bereits überholt. (…)
Den Versuchen, die USA in eine christliche Theokratie zu verwandeln, stehen nicht nur progressive Kräfte entgegen. Große Teile der US-Bourgeoisie leben vom wissenschaftlich-technischen Vorsprung ihres Landes gegenüber der restlichen Welt. Dessen unaufhaltsames Schrumpfen wird zwar durch die Verbreitung religiösen Wahns nicht hervorgerufen, wohl aber erheblich beschleunigt. Nicht nur in den Naturwissenschaften, auch im geistes- und gesellschaftswissenschaftlichen Bereich gibt es mehr als bloß propagandistische Interessen, bedarf es eines Minimums wirklicher Expertise. Jener andere Teil der Oligarchie, der die Demokratische Partei unterstützt, hat daher ebenfalls gute Gründe für seine Positionierung.
Linke Ansätze, Demokratische und Republikanische Partei zu bloßverschiedenen Verpackungen für die gleichen Inhalte zu erklären, übersehen diesen wichtigen Punkt. Natürlich sind beide Parteien, von Minderheitspositionen in ihren Reihen abgesehen, Organisationen des US-Monopolkapitals und vertreten dessen Interessen, im Zweifel mit Gewalt. Die Frage, ob die ökonomische und politische Vorherrschaft vorwiegend mit den Methoden einer liberalen Gesellschaft verteidigt werden soll oder unter Rückgriff auf extreme Formen des Irrationalismus, ist jedoch mehr als bloß taktischer Natur. Der Konflikt zwischen beiden Optionen ist umkämpft; die Balance zu halten zwischen einer hinreichend verdummten und dennoch hochinnovativen Bevölkerung gleicht dem Versuch der Quadratur des Kreises. Je mehr die globale US-amerikanische Dominanz unter Druck gerät, desto schwerer fällt dieser Ausgleich. Hinzu kommt, dass kurzfristige materielle und ideologische Interessen der Angehörigen der herrschenden Klasse in einer auf Privateigentum basierenden Gesellschaft ihre längerfristigen Eigeninteressen mitunter in den Hintergrund zu drängen vermögen.
Der Ausgang dieser Auseinandersetzung ist offen. Nicht offen ist die Frage, was für US-amerikanische Sozialistinnen und Sozialisten auf dem Spiel steht. Die Aufgabe des Widerstandes gegen den christlichen Nationalismus ist keine Option, sondern Selbstmord. Die fortgesetzte Unterordnung unter das Establishment der Demokratischen Partei, so verständlich sie im letzten Wahlkampf gewesen sein mag, läuft auf den Verrat an den Interessen der arbeitenden Klassen und an der internationalen Solidarität hinaus. Zu hoffen bleibt, dass eine Strategie gefunden wird, die beides vermeidet.