Vor 130 Jahren traten erstmals die Bergleute im Ruhrgebiet in den Massenstreik

Glaube an den Kaiser erschüttert

Von Werner Sarbok

Auslöser des großen Bergarbeiterstreiks von 1889, den Friedrich Engels als den Start der revolutionären Bergarbeiterbewegung in Deutschland bezeichnete, waren die Forderungen der Kumpel nach einer Lohnerhöhung von 15 Prozent, für achtstündige Arbeitszeit einschließlich der Ein- und Ausfahrten und gegen Überschichten. Eine andere Forderung war eine bessere Wetterführung in den Gruben, nachdem bei Schlagwetterexplosionen die Zahl der tödlichen Unfälle stark angestiegen war.

Am 24. April 1889 begann der Streik in Bochum auf der Zeche Präsident und am 1. Mai in Essen. Ein zentrales Streikkomitee wurde gebildet. Dem Streik schloss sich innerhalb weniger Tage die überwältigende Mehrheit der Bergleute in der westfälischen Bergbauregion an. Im Revier traten insgesamt 90 Prozent der etwa 104000 Bergarbeiter in den Streik.

Nach Erlass des Allgemeinen Berggesetzes für die preußischen Staaten von 1865 waren private Zechenbetreiber auf den Plan getreten. Bergarbeiter sahen sich nicht nur zahlreichen Grubenherren mit ihren Aufsichtsbeamten als direkten Gegnern konfrontiert, sondern indirekt auch den Banken wie der Berliner Handelsgesellschaft, der Deutschen Bank und der Bank S. Steinröders, die als Kreditgeber erheblichen finanziellen und politischen Einfluss ausübten.

Friedrich Engels schrieb seinerzeit über die Ursachen des Streiks: „Diese Bergarbeiter – bis jetzt gute Untertanen, patriotisch, gehorsam und religiös, die die besten Soldaten für die Infanterie des 7. Armeekorps stellten (ich kenne sie gut, mein Geburtsort liegt nur sechs oder sieben Meilen südlich von diesen Kohlenfeldern) – sind nun durch die kapitalistische Unterdrückung vollkommen aufgerüttelt worden. Während die Zechen – meistens im Besitz großer Aktiengesellschaften – enorme Dividenden auszahlten, wurden die Reallöhne der Arbeiter ständig weiter herabgedrückt.

Der nominelle wöchentliche Lohn wurde zwar aufrechterhalten, in einigen Fällen sogar scheinbar erhöht, indem man die Arbeiter zwang, erhebliche Überzeit zu arbeiten –, statt einer Achtstundenschicht arbeiteten sie 12 bis 16 Stunden, so dass wöchentlich neun bis 12 Schichten herauskamen. Überall gab es die als ‚Genossenschafts‘-Läden getarnten truck shops. Betrug beim Anschreiben der geförderten Kohle war an der Tagesordnung. Ganze Lorenladungen Kohle wurden nicht angeschrieben, mit der Begründung, es handele sich um schlechte Kohle oder die Lore sei nicht richtig gefüllt.“

Die größeren Schachtanlagen hatten zu dieser Zeit Belegschaftsstärken von 400 bis 800 Mann und die sammelten nun Erfahrungen mit dem preußischen Militär, es kam zu zahlreichen Zusammenstößen.

So hatten sich vor der Zeche Moltke in Gladbeck am 8. Mai rund 500 streikende Kumpel versammelt. Die Zechendirektion hatte wie an anderen Orten auch Militär angefordert, weil angeblich Unruhen zu befürchten waren. Als die Bergleute mit Steinwürfen auf die Provokation reagierten, ließ ein Offizier feuern. Drei Bergarbeiter wurden tödlich getroffen.

Am Schacht „Schleswig“ in Dortmund-Neuasseln kam es am 9. Mai zu lebhaften Diskussionen zwischen streikenden Bergleuten und dem Betriebsführer. Die „Rheinische Westfälische Zeitung“ berichtete am 11. Mai: Das später eintreffende Militär habe sich sehr zurückhaltend verhalten, sei aber wiederholt von den anwesenden Arbeitern und Schaulustigen verhöhnt worden. Schließlich sei die Geduld der Soldaten zu Ende gewesen, und nach dreimaliger Aufforderung zum Auseinandergehen krachte die Salve, und drei Tote wälzten sich auf der Chaussee.

Das Streikkomitee entsandte eine Deputation an Kaiser Wilhelm II., die von dem „obersten Bergherrn“ am 14. Mai 1889 empfangen wurde. Der Kaiser kritisierte den Streik, wollte aber die Beschwerden prüfen. Am Folgetag wurde das „Berliner Protokoll“ verabschiedet, in dem für die Bergleute eine Arbeitszeit von acht Stunden vereinbart wurde. Weitgehende Zugeständnisse erfolgten auch hinsichtlich der Überschichten. „Doch im selben Augenblick, als die Arbeiter wieder in den Gruben waren, brachen die Zechenbesitzer ihr Versprechen, einige der Streikführer wurden entlassen (obwohl das Übereinkommen allen ihre alten Arbeitsplätze sicherte), sie weigerten sich, sich wegen der Arbeitszeit mit den Arbeitern zu verständigen“, stellte Friedrich Engels fest und beschrieb den Erkenntnisgewinn der Bergleute: „Ihr Glauben an den Kaiser und an den Pfarrer ist erschüttert worden, und was auch die Regierung unternehmen mag, keine Regierung kann ihre Wünsche befriedigen, ohne das kapitalistische System zu stürzen – und das kann die deutsche Regierung nicht, noch wird sie es versuchen wollen.“

Anfang Juni 1889 beendeten die Bergarbeiter die Streiks, ohne dass ihre zentralen Forderungen durchgesetzt werden konnten. Aber sie hatten wertvolle Erfahrungen gesammelt, die ihr Klassenbewusstsein entwickelten und die sich auch in der Gründung des „Verbandes zur Wahrung und Förderung der bergmännischen Interessen in Rheinland und Westfalen“ (Alter Verband) am 18. August 1889 niederschlug. Damit wurde der Grundstein zur Gründung eines gesamtdeutschen Bergarbeiterverbandes gelegt.

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"Glaube an den Kaiser erschüttert", UZ vom 17. Mai 2019



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