Arbeitszeitverkürzung ist ein Aspekt der laufenden IG-Metall-Tarifrunde

Gift für das Kapital

Seit 25 Jahren gilt in der westdeutschen Metallindustrie die 35-Stunden-Woche. Am 1. Oktober 1995 ist diese tarifliche Regelung in Kraft getreten, für die 1984 hunderttausende Metallerinnen und Metaller fast sieben Wochen streikten. Mit einer Stufenregelung und weiteren Streiks Ende der 80er/Anfang der 90er Jahre konnte die 35-Stunden-Woche elf Jahre nach dem wohl härtesten Kampf in der Geschichte der IG Metall durchgesetzt werden.

Der Kampf um kürzere Arbeitszeiten begleitet die Arbeiterbewegung seit über 150 Jahren. Wilhelm Liebknecht beschrieb bereits 1885 in der Zeitung „Sozialdemokrat“ die Wichtigkeit des Kampfes um die Länge des Arbeitstages:

„Und so wird denn, seit es Lohnarbeit, Arbeiter und Kapitalisten gibt, der Kampf geführt um die Länge des Arbeitstages. Hier zerrt der Kapitalist, dort der Arbeiter – jener versuchend, ein Stück anzuheften, dieser eines abzureißen. Jede Verlängerung des Arbeitstages ist ein Sieg der Kapitalisten. Jede Verkürzung des Arbeitstages ein Sieg der Arbeiter. Gerade hier, am Arbeitstage, gewissermaßen im Mutterleibe der kapitalistischen Produktion, zeigt sich am handgreiflichsten, drastischsten der unversöhnbare Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit.“

Auch in der jetzigen Krise ist die Länge des Arbeitstages ein Angriffsziel des Kapitals. Gegen die Forderung des IG-Metall-Vorsitzenden Jörg Hofmann nach einer 4-Tage-Woche mit „gewissem“ Lohnausgleich für Betriebe mit Beschäftigungsproblemen hetzt Gesamtmetall und nennt sie „totales Gift“. Scharfmacher Stefan Wolf, der im November zum Nachfolger von Rainer Dulger an die Gesamtmetall-Spitze gewählt werden soll, bringt sich in Stellung: „Wir brauchen jetzt Mehrarbeit ohne vollen Lohnausgleich. Das können mal zwei oder auch mal vier Stunden pro Woche sein“, sagte Wolf der „Bild“-Zeitung, und der gesamte bürgerliche Blätterwald von A wie „Automobilwoche“ bis Z wie „Zeit“ applaudierte. Eine starre 35-Stunden-Woche passe nicht mehr in die Zeit. Er wolle flexibel abweichen, je nach Auftragslage, so Wolf weiter. Auch Pausenregelungen sollen auf den Prüfstand.

So greift er den Arbeitstag von verschiedenen Seiten an. Aber auch die Löhne werden an mehreren Stellen angegriffen. Kurzarbeit will Wolf generell nur mit entsprechenden Lohnabschlägen und Spätzuschläge sollen teils abgeschafft werden. Diese seien „nicht mehr zeitgemäß“. Auch Sonderzahlungen wie Weihnachtsgeld sind ihm ein Dorn im Auge. Tariferhöhungen soll es keine geben. Von einer doppelten Nullrunde ist die Rede. 2020 nichts und 2021 auch nichts. Die Angriffe des Kapitals werden von Monat zu Monat dreister. Sie wollen ihre Profite auch in der Krise sichern auf Kosten der Arbeiterklasse und greifen Arbeitszeiten sowie Löhne gleichermaßen an.

Durch „Krisenregelungen“ wie Verlängerung und einfachere Zugangsvoraussetzungen für Kurzarbeit wurde von staatlicher Seite dem Kapital zugearbeitet – damit konnten sie Einbrüche bei Produktion und Umsatz abfangen, allerdings bezahlt durch Beitrags- und Steuergelder der Lohnabhängigen. Doch das ist den Metallkapitalisten nicht genug, obwohl sie damit bis jetzt gut durch die Wirtschaftskrise gekommen sind und einen Großteil der Kosten auf die Allgemeinheit abwälzen konnten. Wo sie eine offene Flanke sehen, nutzen sie die Verunsicherung durch die Pandemie aus, um anzugreifen. In etlichen größeren Konzernen wie Daimler, Bosch, ZF konnten von den Geschäftsleitungen bereits zeitlich befristet Arbeitszeitreduzierungen ohne einen Cent Lohnausgleich erpresst werden – ohne dass die IG Metall versucht hat, nachhaltige überbetriebliche Abwehrkämpfe zu organisieren. Die Erfolge in Kampfbetrieben der IG Metall haben Gesamtmetall ermutigt, immer unverschämtere Angriffe zu fahren. Gegenwehr gab es nur punktuell, zersplittert, ohne Bündelung der Kampfkraft. Genau dies muss sich ändern.

Die IG Metall muss der Offensive des Kapitals eine Offensive der Gewerkschaftsbewegung entgegensetzen. Dass die Kolleginnen und Kollegen dazu bereit sind, haben die vielen betrieblichen Aktionen im September und Oktober bewiesen. Wie 1984 braucht es eine Forderung, die alle Kolleginnen und Kollegen vereint, gleiche Standards setzt, also eine für alle gleiche Arbeitszeitverkürzung, nicht nur für einen kleinen Teil, wie vom IGM-Vorstand vorgeschlagen. 1984 konnte mit Arbeitszeitverkürzung erreicht werden, dass trotz „Rationalisierungsschub“ die Arbeitsplätze erhalten blieben. Heute heißt das Schlagwort „Transformation“, und auch da hilft Arbeitszeitverkürzung, um die Belegschaften an Bord zu halten.

Es war seit über 150 Jahren Konsens in der Arbeiterbewegung, dass Arbeitszeitverkürzungen mit vollem Lohnausgleich erfolgen müssen – wie auch 1984 – und nicht nur mit einem „gewissen“. Dieser bisher gehaltene Standard darf nicht verschenkt werden. Die Erfahrung aus den 80ern lehrt auch, dass weiteren Arbeitsverdichtungen Einhalt geboten werden muss, wenn Arbeitszeit verkürzt wird. Dass all dies nur mit Streik erreichbar ist und nicht mit Sozialpartnerschaftsideologie am Verhandlungstisch durchgesetzt werden kann, ist angesichts der Angriffe von Gesamtmetall logisch. Die derzeitige wirtschaftliche Lage ist nicht einfach, aber es gibt genug Betriebe, die die Produktion hochfahren, erste Überstunden und Sonderschichten sind bereits wieder beantragt. Dort kann auch ökonomischer Druck durch Streik erzeugt werden. Auch der politische Druck muss und kann verstärkt und Bündnisse für eine gesellschaftliche Bewegung geschmiedet werden. Dass Streiks auch unter Corona-Bedingungen möglich sind, haben die Kolleginnen und Kollegen aus dem Öffentlichen Dienst in den letzten Wochen bewiesen.

Nicht die abhängig Beschäftigten sind die Verursacher der Wirtschaftskrise und auch nicht die Profiteure des kapitalistischen Systems. Die Produktivität in der Metall- und Elektroindustrie ist die letzten Jahrzehnte extrem gestiegen – abkassiert hat nur das Kapital.

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"Gift für das Kapital", UZ vom 13. November 2020



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