Artikel von Anton Ackermann in der Zeitschrift „Einheit“ von 1946

Gibt es einen besonderen deutschen Weg zum Sozialismus?

Anton Ackermann

In seinem Artikel in der ersten Ausgabe der theoretischen Zeitschrift „Einheit“ analysierte Anton Ackermann die besondere Situation Deutschlands nach der Befreiung von Faschismus und Krieg. Das führende Mitglied der KPD und der späteren SED entwickelte auf Grundlage der Anwesenheit der Roten Armee in Deutschland Überlegungen zum Übergang zum Sozialismus. Der Artikel verdient Beachtung, da Ackermann seine Überlegungen auf einer sehr konkreten Analyse der besonderen Bedingungen Deutschlands aufbaut. Sie bilden die Grundlage für die Konkretisierung der allgemeinen Erkenntnisse des Marxismus-Leninismus zur Errichtung des Sozialismus in Deutschland.
Der Artikel ist abgedruckt in dem Buch „Anton Ackermann – Der deutsche Weg zum Sozialismus“. Wir danken dem Herausgeber Frank Schumann für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung.

[…] Die bedeutungsvollste aller Fragen, die nunmehr geklärt werden müssen, ist die Frage: Auf welchem Boden und mit welchem Programm soll die Vereinigung [der Parteien] erfolgen? Über die dabei auftauchenden Probleme soll eine umfassende Aussprache stattfinden.

Diese Programmdiskussion kann nun aber beileibe nicht nur die Sache einiger Führer, einiger Theoretiker sein, obwohl den Führungen der KPD und der SPD die Verpflichtung obliegt, die Parteimitgliedschaft ihre klare Stellungnahme zu den komplizierten Fragen, die unvermeidlich auftauchen werden, vorzulegen.

Aber die Vereinigung bedeutet die Verständigung unter Zehntausenden aktiver sozialdemokratischer und kommunistischer Funktionäre und unter Hunderttausenden von Mitgliedern beider Parteien. Von unten bis oben sollen beide Parteiorganismen zu einem untrennbaren Ganzen zusammenwachsen. Folglich ist es klar, dass die Klärung besonders der programmatischen Fragen eine Angelegenheit nicht nur der führenden Köpfe, sondern der Mitgliedschaft beider Parteien und darüber hinaus aller jener Werktätigen ist, die proletarisches Klassenbewusstsein besitzen und der Einheitspartei zweifellos in großen Massen zuströmen werden, weil diese wie ein Magnet auf alle jene Arbeiter und Werktätigen wirken wird, die ihrer ganzen Einstellung nach auf der Seite der sozialistischen Bewegung stehen, sich aber heute weder für die SPD noch für die KPD entscheiden können. […]

Kann die Arbeiterklasse auf dem demokratisch-parlamentarischen Weg oder nur auf dem Wege revolutionärer Gewaltanwendung in den Besitz der ganzen politischen Macht kommen?

In Russland ging die Entwicklung den letzteren Weg. Die Sowjetunion ist bis heute das einzige Land geblieben, wo tatsächlich eine grundlegende Veränderung der Gesellschaftsstruktur erreicht wurde. […] An dieser historischen Erfahrung können wir unmöglich vorübergehen. […]

Ziehen wir dabei zunächst Marx und Engels zu Rate, die sich ja wiederholt und äußerst gründlich mit der gleichen Frage beschäftigt haben. […]

Im I. Teil (des Kommunistischen Manifestes – d. Hrsg.) geben Marx und Engels einen Überblick über die gesamte Entwicklung der Gesellschaft seit Aufhebung der Sklaverei. Sie beginnen diese erste grundlegende Darstellung der materialistischen Geschichtsauffassung mit den Worten: „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen.“ […]

Der Kampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie vollzieht sich als schärfster Klassenkampf („mehr oder minder versteckter Bürgerkrieg“), bis das Proletariat in offener Revolution die Bourgeoisie gewaltsam stürzt und seine Herrschaft aufrichtet.

Hier haben wir eine äußerst prägnante Beantwortung der Frage, wie die Arbeiterklasse in den Besitz der ganzen Macht gelangen kann, eine Antwort, die keinerlei Zweideutigkeit, keinerlei Ausweichen zulässt.

So urteilten der junge Marx und der junge Engels, und zwar am Vorabend der Revolutionen von 1848 in Frankreich, Italien, Deutschland und Österreich.

Aber vielleicht haben der reifere Marx und der reifere Engels diese These korrigiert? Vielleicht sind beide in friedlicheren Perioden zu anderen Auffassungen gelangt? […]

Die Pariser Kommune lieferte den endgültigen Beweis dafür, dass sich das Proletariat durch eine Gewaltakt in den Besitz der Macht setzen muss, um den alten Staatsapparat zu beseitigen und seinen eigenen aufzubauen.

Für unsere gegenwärtigen Debatten ist es nun von besonderer Bedeutung, dass Marx und Engels in dieser Beziehung keinen wesentlichen Unterschied zwischen dem kapitalistischen Staat in der Form der bürokratisch-materialistischen Monarchie (wie das Bismarcksche Deutschland) und einer zum bürokratisch-militaristischen Gewaltapparat erstarrten bürgerlich-demokratischen Republik machten. Die eine wie die andere Staatsmaschinerie waren für Marx und Engels Gewaltinstrumente zur Niederhaltung der arbeitenden Klassen, das zerbrochen werden muss. […]

Die Hülle der alten Gesellschaftsverfassung gewaltsam (zu) sprengen und außerdem (als vordringlichste Forderung) die Fesseln der noch halbabsolutistischen politischen Ordnung (zu) sprengen – darin sah Engels die Rolle der Sozialdemokratie, und er bedauerte, dass dies im Erfurter Programm (von 1891 – d. Hrsg.) unter Rücksicht auf die Polizeiwillkür nicht ausgesprochen war.

Zwei Etappen des Kampfes sah Engels voraus. Die erste Etappe: der Kampf um die demokratische Republik, die zweite Etappe: in der demokratischen Republik nimmt die Arbeiterklasse den Kampf um die ganze Macht auf, wobei auch dieser Kampf ein gewaltsames Sprengen der Staatshülle sein wird. Und das ist der Hauptgedanke der Kritik Engels’ am Erfurter Programm von 1891! […]

Engels spricht (1895 in seiner Einleitung zu den „Klassenkämpfen in Frankreich“ – d. Hrsg.) vom Wahlrecht als „ein Mittel der Befreiung“, aber in welchem Sinne? Das allgemeine Wahlrecht ist nach Engels ein Kampfmittel in den Händen der Sozialdemokratie

1) weil die Wahlerfolge die Siegesgewissheit der Arbeiter steigern und so bestes Propagandamittel der Sozialdemokratie wurden;

2) weil es einen Maßstab für die beiderseitigen Kräfte im Kampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie liefert, wodurch sowohl das Zurückbleiben wie das Vorauseilen der sozialdemokratischen Taktik gegenüber der Entwicklung vermieden werden kann;

3) weil die Wahlkampagnen der Sozialdemokratie die beste Möglichkeit bietet, breiteste Schichten des arbeitenden Volkes für sich zu gewinnen;

4) weil das Parlament für die sozialdemokratischen Abgeordneten eine ausgezeichnete Tribüne darstellt.

Mehr ist aus den Worten Engels’ über das Wahlrecht als Mittel der Befreiung beim besten Willen nicht herauszulesen. Man beachte vor allen Dingen, was Engels hier über die Rolle des Parlamentes für die demokratischen Abgeordneten sagt. Das Parlament ist für Engels keinesfalls die Arena, wo die Arbeiterklasse ihren Befreiungskampf durchfechtet, sondern die Tribüne, von der aus die Abgeordneten den Kampf um die Massen zu führen haben.

Die Einleitung Engels’ zu den „Klassenkämpfen in Frankreich“ ist in einer relativ friedlichen Periode und für die Taktik der Sozialdemokratie in dieser Periode geschrieben worden. Nur Abenteurer und Provokateure konnten im Jahre 1895 von der Sozialdemokratie eine Barrikade-Taktik fordern. Es war vollkommen klar, dass in dieser verhältnismäßig friedlichen, keinesfalls aber revolutionären Situation die friedlichen, die gesetzmäßigen Kampfmittel in den Vordergrund treten mussten. […]

In der Einleitung zu den „Klassenkämpfen in Frankreich“ führt Engels seine Betrachtungen zu Ende. Er sieht voraus, was tatsächlich später, wenn auch unter anderen Begleitumständen, eingetreten ist: Das Anwachsen der revolutionär-sozialistischen Kräfte unter den Verhältnissen eines bürgerlich-demokratischen Regimes wird von den herrschenden reaktionären Mächten beantwortet werden mit der Aufhebung des gesetzmäßigen Zustandes, mit der Aufrichtung eines offen diktatorischen Gewaltregimes. Das allgemeine Wahlrecht kann die Arbeiterpartei an den Kampf um die Macht heranführen, aber an diesem Punkt angelangt, schlägt die Entwicklung um, weil die Bourgeoisie niemals freiwillig und friedlich auf ihre Vormacht verzichtet, sondern zur Gewalt greift und das allgemeine Wahlrecht aufhebt, sobald es ihm gefährlich zu werden droht.

Damit ist der Traum vom friedlichen Hineinwachsen in den Sozialismus ausgeträumt. Wo das Proletariat den friedlichen Weg bis zu Ende zu gehen versucht, da greift die Bourgeoisie zu den Mitteln des Bürgerkrieges und zwingt die Arbeiterbewegung zur entsprechenden Antwort, d. h. zum offenen Kampf, wenn nicht der Verzicht auf den Sozialismus, die volle und schmähliche Kapitulation, erfolgen soll.

Welcher Weg beschritten wird, welche Kampfmittel in Anwendung gebracht werden müssen, das hängt ja nicht nur von der einen Partei der miteinander Kämpfenden ab. Im Ringen zwischen Proletariat und Bourgeoisie mag das erstere sich peinlichst genau an alle Spielregeln der Gesetzmäßigkeit (gemeint ist Gesetzlichkeit – d. Hrsg.) halten. In dem Moment, wo die Bourgeoisie sieht, dass sie zu unterliegen droht, greift sie zu den unfairsten Mitteln, um die drohende Niederlage abzuwenden und der sozialistischen Arbeiterbewegung das Rückgrat zu brechen. Dieser Gang der Entwicklung ist unvermeidlich, selbst im demokratischen Lande und bei der fortschrittlichsten Bourgeoisie, weil es bedeuten würde, in die Auffassungen der kleinbürgerlich-utopischen Sozialisten zurückzufallen, wenn man annehmen wollte, dass die Kapitalistenklasse freiwillig von der Macht abtreten und auf ihre Privilegien, ihren Reichtum, auf die Ausbeutung des werktätigen Volkes und den allein seligmachenden Profit verzichten würde.

Die Klassennatur ihres Gegners macht dem Proletariat das friedliche Fortschreiten zur höheren, sozialistischen Gesellschaftsordnung unmöglich. Das ist die Quintessenz der gesamten geschichtlichen Erfahrung der Arbeiterbewegung. […]

Die Entwicklung in Deutschland selbst ist wohl der deutlichste Beweis dafür, wozu die reaktionären Großkapitalisten fähig sind, wenn ihrem System ernste Gefahr droht. In demselben Maße, in dem in den Jahren der Weimarer Republik die revolutionären Kräfte anwuchsen, wurden die demokratischen Freiheiten immer mehr beschnitten, eingeengt, verdreht und aufgehoben. Es begann mit Presse- und Versammlungsverboten, Notverordnungen und Ausnahmegesetzen in den Jahren der Weltwirtschaftskrise und mündete in die faschistische Barbarei. Nunmehr zeigten die Herren Bourgeois in einer wahrlich nicht mehr zu überbietenden Weise, was ihnen demokratische Freiheiten, Recht, Gesetz und Menschenwürde wert sind.

Was könnte uns veranlassen, anzunehmen, dass die selben Kräfte dasselbe verbrecherische Spiel nicht von neuem beginnen würden, falls das arbeitende Volk wie ein Selbstmörder handeln und ihnen die Möglichkeit dazu noch einmal bieten würde? […]

Das alles musste zunächst einmal ausführlich dargelegt werden, wenn an die Frage herangegangen werden soll, ob es einen besonderen deutschen Weg zum Sozialismus gibt, ohne damit Verwirrung und neue Illusionen zu schaffen, die sich verhängnisvoll auswirken müssten. […]

Ein Übergang ist auf relativ friedlichem Weg möglich, wenn die Klasse der Bourgeoisie durch besondere Umstände nicht über den militaristischen und bürokratischen staatlichen Gewaltapparat verfügt, der es ihr sonst möglich macht, den Herrschaftsanspruch des Proletariats mit dem Bürgerkrieg und der terroristischen Niederwerfung der proletarisch-sozialistischen Bewegung zu beantworten.

Eine solche besondere, ausnahmsweise Konstellation ist aber in der an Wechselfällen so reichen geschichtlichen Entwicklung unseres Zeitalters nicht ausgeschlossen. […]

Zweifellos haben wir es gegenwärtig in jeder Beziehung mit ganz außergewöhnlichen Umständen zu tun, die keinen Vergleich mit irgend einer Situation in irgend einem anderen Land zu irgend einer anderen Zeit aushält.

Vor allem ist Deutschland ein besetztes Land. Die oberste Gewalt und den entscheidenden Machtfaktor stellt die Alliierte Militärverwaltung dar, in den verschiedenen Besatzungszonen die vier verschiedenen Besatzungsmächte. Ob es die Möglichkeit geben wird, auf friedlichem Wege und ohne auf entgegenwirkende Faktoren zu stoßen, im Verlaufe der weiteren Entwicklung von der demokratischen Erneuerung Deutschlands zur sozialistischen Umgestaltung weiterzugehen, hängt zunächst von einem Faktor ab, der außerhalb des Einflusses der sozialistischen deutschen Arbeiterbewegung liegt. Aber damit können wir diese Seite der Frage verlassen; denn selbst völlige Neutralität aller Besatzungsmächte in Bezug auf die zukünftige Gesellschaftsstruktur Deutschlands theoretisch vorausgesetzt, taucht hier sofort ein weiteres, das entscheidende eigene Problem der sozialistischen deutschen Arbeiterbewegung auf.

Unser Verhängnis ist es, dass das Hitlerregime nicht durch eine revolutionäre, antifaschistisch-demokratische Umwälzung von innen her aus den Angeln gehoben wurde. Aber die reaktionäre Staatsmaschinerie ist trotzdem weitgehend zerschlagen – nämlich durch die Gewalt der stärkeren Waffen der Alliierten bzw. durch die Maßnahmen der alliierten Kontrollbehörden nach der Besetzung Deutschlands. Der reaktionäre preußisch-deutsche Militarismus soll laut den Beschlüssen der Potsdamer Konferenz bis auf den Rest liquidiert werden. […] Dem deutschen Volk ist die Möglichkeit zugesichert, ein neues demokratisches Deutschland aufzubauen. Folglich löst sich die Frage nach dem weiteren Weg in die folgende weitere Frage auf:

Entwickelt sich der neue demokratische Staat als ein neues Gewaltinstrument in den Händen der reaktionären Kräfte, so ist der friedliche Übergang zur sozialistischen Umgestaltung unmöglich.

Entwickelt sich aber die antifaschistisch-demokratische Republik als ein Staat aller Werktätigen unter der Führung der Arbeiterklasse, so ist der friedliche Weg zum Sozialismus durchaus möglich, insofern dann die Gewaltanwendung gegen den (übrigens vollkommen legalen, vollkommen gesetzmäßigen) Anspruch der Arbeiterklasse auf die ganze Macht ausgeschlossen ist.

Die Frage nach einem besonderen deutschen Weg zum Sozialismus ist infolgedessen weniger eine theoretische Frage als die der praktischen Politik, d. h. es ist die Frage, ob die deutsche Arbeiterschaft im Bunde mit allen fortschrittlichen Schichten des schaffenden Volkes den entscheidenden Einfluss auf die demokratische Neugestaltung Deutschlands gewinnt oder nicht.

In dieser Beziehung nun liegen bereits eine Reihe positiver, aber ebenso eine Reihe negativer Momente vor.

Positiv ist, dass in großen Teilen Deutschlands die Entnazifizierung des Verwaltungsapparates konsequent durchgeführt wird und neue Kräfte, Kräfte aus dem schaffenden Volk, entscheidende Positionen innehaben.

Negativ ist, dass anderwärts diese Erneuerung des Verwaltungsapparates zu wünschen übrig lässt und reaktionäre, ja zum Teil sogar nazistische Elemente an einflussreichen Stellen geblieben sind.

Unerhört positiv wirken sich solche konsequenten Maßnahmen aus wie die demokratische Bodenreform oder die Zerschlagung der Trusts, Konzerne und Banksyndikate, weil damit den reaktionärsten und imperialistischsten Kräften die ökonomische Basis entzogen ist.

Aber ebenso negativ wirkt sich das Weiterbestehen eines Teiles dieser Basis aus, weil damit die Entwicklung unvermeidlich in eine bestimmte Bahn gedrängt wird. Denn wir Marxisten wissen, dass auf einen längeren Zeitraum gesehen die ökonomisch herrschende Klasse auch zur politisch herrschenden Klasse werden muss. Bleibt (wie es 1918 geschah) die ökonomische Machtbasis des Finanzkapitals erhalten, dann wird über kurz oder lang diese reaktionäre Kraft dank der Macht ihres Reichtums und ihres Einflusses, ihrer Beziehungen und Verbindungen den entscheidenden Einfluss auch in der Politik und im Staate wieder fest in Händen haben.

Äußerst positiv müssen sich solche Faktoren auswirken wie das weitgehende Mitbestimmungsrecht der Arbeiter in Betrieb und Wirtschaft, weil damit der fortschrittliche Einfluss, die vorwärtstreibenden Tendenzen auf die Entwicklung der Gesamtwirtschaft zur Geltung kommen.

Äußerst negativ kann es sich umgekehrt auswirken, dass ein solches weitgehendes Mitbestimmungsrecht nicht überall als gesichert betrachtet werden kann, weil damit den Tendenzen jeder modernen kapitalistischen Wirtschaft zur Bildung bzw. Neubildung der Monopole freier Lauf gegeben ist.

Das Positivste aber ist die Tatsache einer festen Einheit der antifaschistisch-demokratischen Kräfte in weiten Gebieten des Reiches, vor allem der wachsende Drang zur Schaffung der Einheitspartei der Arbeiter. Nur die Vereinigung der KPD und der SPD und damit das Anwachsen der Kräfte des Sozialismus auf eine Millionenschar aktiver Mitstreiter kann die Garantie schaffen, dass nicht das reaktionäre Großbürgertum, sondern die Arbeiterschaft und das werktätige Volk den Gang der weiteren Entwicklung bestimmen.

Mit der größten Wachsamkeit müssen andererseits die fortschrittlichen Kräfte solchen nicht nur negativen, sondern geradezu alarmierenden Tatsachen gegenüberstehen wie denen, dass die Kräfte der Restauration des reaktionären, imperialistischen Deutschlands bereits wieder aus den Mauselöchern hervorkriechen, hier und dort einen frechen Angriff wagen und offensichtlich bestrebt sind, sich auch wieder legale Instrumente ihrer Politik zu schaffen, vor allem eine Presse und Organisation der Konterrevolution. Allein schon ein solcher Name wie „Bayerische Königspartei“ spricht hierbei tatsächlich ganze Bände.

Je gründlicher und umfassender wir alle Für und Wider der kommenden Entwicklung untersuchen, desto stärker müssen wir der Überzeugung Ausdruck geben, dass die rasche Entfaltung der kämpferischen Fortschrittskräfte in der Arbeiterklasse und im gesamten schaffenden Volk letzten Endes den Ausschlag geben wird. […]

Gegenwärtig ist in Deutschland noch alles im Werden, alles im Fluss und weniges vorläufig, nichts schon endgültig entschieden. Lange kann und wird dieser Zustand nicht anhalten (unter vielem anderen zeigen das die bisher vorliegenden Resultate der Teilwahlen).

Die Stunde drängt zur Entscheidung, und wir werden nicht ein Jahrzehnt, vielleicht nicht ein Jahr zur Verfügung haben, bis wir wieder sagen müssen: Noch eine glänzende Situation, vielleicht die günstigste (ursprünglich stand dafür: „letzte Chance“ – d. Hrsg.) ist verpasst. Das ist der tiefere Grund, weshalb die Vereinigung der KPD und der SPD auf keinen Fall auf die lange Bank geschoben werden kann. Denn die spätere Entwicklung dürfte mir kaum Unrecht geben, wenn ich feststelle: Auf welchem Wege und in welchem Tempo Deutschland künftig zum Sozialismus schreiten wird, das hängt ausschließlich davon ab, in welchem Tempo jetzt die Einheitspartei verwirklicht wird.

Damit ist die Antwort auf die Möglichkeit einer besonderen Entwicklung in Deutschland gegeben, soweit es die Grundzüge des Überganges vom Kapitalismus zum Sozialismus betrifft. Für Deutschland wie für jedes andere Land gilt, dass es ohne Aufrichtung der ganzen Macht der Arbeiterklasse keinen Aufbau des Sozialismus geben kann.

Ob die Arbeiterklasse vom gegenwärtigen Ausgangspunkt auf friedlichem Wege und unter Beschränkung auf rein gesetzliche Mitteln in den Besitz der ganzen Macht kommen kann, darüber entscheiden die nächsten Wochen und Monate.
Und dies in dem Sinne, dass in dieser kurzen Zeitspanne die Entscheidung fallen wird, ob die demokratische Republik von neuem Gewaltinstrument in den Händen reaktionärer Kräfte wird oder ein fortschrittlicher Staat, der für eine spätere Entwicklung zum Sozialismus kein unüberwindliches Hindernis bilden wird. Niemand wünscht sehnlicher als wir, dass neue offene Kämpfe, ein neues Blutvergießen vermieden werden kann.

In allen Dingen, die nicht die eben bezeichneten Grundfragen der Umwälzung zum Sozialismus betreffen, wird in diesem oder jenem Falle die Entwicklung in Deutschland zweifellos einen weitgehenden spezifischen Charakter tragen. Oder mit anderen Worten: Im Einzelnen werden sich die starken Besonderheiten der historischen Entwicklung unseres Volkes, seine politischen und nationalen Eigenheiten, die besonderen Züge seiner Wirtschaft und seiner Kultur außerordentlich stark ausprägen. (Unterstreichung im Original – d. Hrsg.)

Die in der gemeinsamen Entschließung vom 21. Dezember 1945 dargelegte Auffassung ist also durchaus begründet: „Die Einheitspartei soll selbständig und unabhängig sein. Es ist ihre Aufgabe, ihre Politik und Taktik entsprechend den Interessen der deutschen Werktätigen und den speziellen Bedingungen in Deutschland zu entwickeln. Sowohl bei der Verwirklichung des Programm-Minimums soll sie, von den Besonderheiten der Entwicklung unseres Volkes ausgehend, einen eigenen Weg einschlagen.“

Kein anderer als Lenin hat betont, dass es der größte Fehler wäre, die Wahrheit über die Allgemeingültigkeit der russischen Erfahrungen zu übertreiben und „sie auf mehr als einige Grundzüge unserer (d. h. der russischen) Revolution auszudehnen“ (siehe Lenin: „Der Radikalismus, die Kinderkrankheit des Kommunismus“, Kapitel I: „In welchem Sinne kann man von der internationalen Bedeutung der russischen Revolution sprechen?“)

Im Oktober 1916 brachte Lenin in dem Artikel: „Eine Karikatur auf den Marxismus“ außerordentlich tiefe Gedanken über die Besonderheit der Entwicklung in jedem Land zum Ausdruck: „Alle Völker werden zum Sozialismus gelangen, das ist unausbleiblich, aber sie werden dahin nicht auf ganz dem gleichen Wege gelangen, jedes wird dieser oder jener Form der Demokratie, dieser oder jener Abart der Diktatur des Proletariats, diesem oder jenem Tempo der sozialistischen Umgestaltung der verschiedenen Seiten des gesellschaftlichen Lebens seine Eigenart verleihen. Nichts wäre theoretisch kläglicher und praktisch lächerlicher als ‚im Namen des historischen Materialismus‘ in dieser Hinsicht ein Zukunftsbild in monotonem Grau zu malen.“ (Lenin, Sämtliche Werke, Band 19, Seite 281) In diesem Sinne müssen wir einen besonderen deutschen Weg zum Sozialismus bejahen. […]

Eine Eigenart der Oktoberrevolution bestand z. B. darin, dass sie in einem Lande vonstatten ging, das in ökonomischer Beziehung damals weit hinter den fortgeschrittenen Ländern zurückgeblieben war. Die Produktivität der Arbeit war relativ niedrig, die Industrie schwach entwickelt, die Zahl der qualifizierten Arbeitskräfte gering. Außerdem hatten die Auswirkungen des Krieges einen katastrophalen wirtschaftlichen Verfall herbeigeführt.

In Deutschland stehen wir heute einer noch größeren Wirtschaftskatastrophe gegenüber, aber die Produktivität der Arbeit stand bereits auf einem viel höheren Niveau als 1917 im zaristischen Russland, und dieses hohe Niveau kann rasch wieder erreicht werden. Die Zahl der qualifizierten Arbeitskräfte ist trotz des Aderlasses im Hitlerkrieg unvergleichlich größer, als sie 1917 in Russland war.

Dieser Unterschied kann sich in der Richtung auswirken, dass im Verhältnis zu den Opfern, die vom russischen Volk für den Aufbau des Sozialismus gebracht werden mussten, unsere Anstrengungen relativ geringer sein werden; das Anwachsen des sozialistischen Wohlstandes kann unter Umständen (ursprünglich: infolgedessen – d. Hrsg.) rascher vor sich gehen.

Eine andere Besonderheit der Oktoberrevolution bestand darin, dass die russische Arbeiterklasse nicht die Mehrheit der Gesamtbevölkerung darstellte, wie das in Deutschland der Fall ist. Das wird ebenfalls nach dem Sieg der Arbeitermacht in Deutschland von großer Bedeutung sein, weil es den inneren politischen Kampf erleichtern, weniger opferreich gestalten und die Entfaltung der sozialistischen Demokratie beschleunigen wird.

Gelingt es in Deutschland, vor dem Siege der Arbeiter über die Bourgeoisie die politische und organisatorische Einheit der Arbeiterbewegung auf dem Boden des konsequenten Marxismus herzustellen, so wird auch dieser Umstand die weitere politische Entwicklung wesentlich anders gestalten als nach dem Siege der Oktoberrevolution in Russland, die den Sieg der bolschewistischen Partei, die Niederlage und schließlich die Zerschmetterung der menschewistischen Partei (die zu einer konterrevolutionären Partei geworden war) bedeutete. In diesem Falle kann eine Besonderheit der deutschen Entwicklung darin bestehen, dass eine stärkere (und infolgedessen auch schärfere) innere Auseinandersetzung in der Arbeiterschaft und im schaffenden Volk nach ihrem Klassensieg über die Bourgeoisie nicht auszubrechen braucht. Auch eine solche Tatsache müsste eine raschere Entfaltung aller positiven Kräfte, ein schnelleres Hervortreten der konsequenten sozialistischen Demokratie zur Folge haben.

Auch der niedrige Stand der materiellen und geistigen Kultur im zaristischen Russland brachte nach dem Oktobersieg wesentliche Erschwerungen für die Entwicklung sozialistischer Verhältnisse und einer neuen, sozialistischen Kultur. […]

Damit ist für die Aussprache erst ein Anfang gemacht; mehr auf keinen Fall. Trotzdem berechtigen die getroffenen Feststellungen zu dem Optimismus, dass Lenin recht behalten wird, wenn er sagte, dass es in Russland leichter war, die Macht zu ergreifen, aber unvergleichlich schwerer, den Sozialismus aufzubauen, als es in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern der Fall sein wird.

Alles andere hängt von den subjektiven Faktoren, d. h. in erster Linie von dem Grad der Reife, der Entschlossenheit und der Einheit der deutschen Arbeiterklasse und Werktätigen ab.

Möge uns hier die Zeit auf der Höhe der Aufgaben finden!

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