Urteilsverkündung im Prozess um den Polizeimord an Mouhamed Dramé in Dortmund

Gewünschte Gewalt

„Im Namen des Volkes ergeht folgendes Urteil: Die Angeklagten werden freigesprochen. Die Kosten des Verfahrens trägt die Staatskasse.“ Mit diesen Sätzen eröffnete der Vorsitzende Richter Thomas Kelm den letzten Hauptverhandlungstermin im Strafprozess gegen fünf Polizisten, die an dem tödlichen Einsatz gegen Mouhamed Lamine Dramé am 8. August 2022 in der Dortmunder Nordstadt beteiligt waren. Mit diesen Sätzen schockierte Kelm Prozessbeobachter, Journalisten und all diejenigen, die seit der Tat für Aufklärung und Gerechtigkeit für das Opfer und dessen Familie kämpfen. Vor allem aber schockierte er Menschen, die von Rassismus betroffen sind oder an psychischen Erkrankungen leiden.

Für Bestürzung hatte bereits das Plädoyer der Staatsanwaltschaft am 2. Dezember, dem 29. Prozesstag, gesorgt. Oberstaatsanwalt Carsten Dombert und Staatsanwältin Gülkiz Yazir forderten Freisprüche für vier der fünf Angeklagten. Die Staatsanwaltschaft sah den tödlichen Polizeieinsatz dennoch als rechtswidrig an, nämlich ab dem Moment, in dem Einsatzleiter Thorsten H. der Beamtin Jeannine Denise B. befahl, Pfefferspray gegen Mouhamed Dramé einzusetzen.

Dramé lehnte zu dem Zeitpunkt an einer Mauer in einer Nische innerhalb des geschlossenen Innenhofs einer Jugendhilfeeinrichtung. Er hielt sich ein Küchenmesser an den Bauch, wohl in suizidaler Absicht. Weil Dramé auf Anspracheversuche zweier Sozialarbeiter nicht reagierte, rief der Leiter der Einrichtung schließlich die Polizei.

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Vordere Reihe, von links nach rechts: Jeannine Denise B. mit Strafverteidiger Lars Brögeler, Einsatzleiter Thorsten H. mit Strafverteidiger Michael Emde (Foto: Valentin Zill)

Da der Einsatz des Pfeffersprays nicht gerechtfertigt und auch nicht angekündigt worden war, bewertete die Staatsanwaltschaft dessen Anordnung als rechtswidrige Verleitung Untergebener zu einer Straftat. H. habe dabei mit Vorsatz gehandelt und sich der fahrlässigen Tötung schuldig gemacht. Dafür forderte Gülkiz Yazir zehn Monate Haft, ausgesetzt auf zwei Jahre Bewährung, und 5.000 Euro Geldstrafe.

Thorsten H. hatte behauptet, den Pfeffersprayeinsatz angeordnet zu haben, um Mouhamed Dramé dazu zu bringen, das Messer fallen zu lassen. Er habe unverzüglich handeln müssen, weil Dramé sich jederzeit das Messer habe in den Bauch rammen können. Die Staatsanwaltschaft kritisierte, dass H. keine Neubewertung der Lage vornahm, obwohl er zehn Sekunden zwischen dem ersten und zweiten Befehl und dann weitere 27 Sekunden zum dritten Befehl verstreichen ließ. In dieser Zeit bewegte Mouhamed sich nicht. Glaubhafte Anzeichen, er habe zur Tat schreiten wollen, gab es folglich nicht. Eine „gegenwärtige Gefahr“ für das Leben Mouhamed Dramés bestand nach Ansicht der Staatsanwaltschaft nicht. H. habe damit rechnen müssen, das Dramé auf den Pfeffersprayeinsatz nicht reagiere. Zudem hätte der Einsatzleiter durch eine andere Aufstellung der Polizisten dafür sorgen können, dass Dramé nicht ausschließlich in Richtung der Beamten fliehen konnte.

Jeannine Denise B. sei trotz ihres rechtswidrigen Angriffes auf Mouhamed Dramé freizusprechen. Für B. sei nicht offensichtlich gewesen, dass sie eine Straftat begehe, weshalb sie ohne Schuld gehandelt habe.

Die teils in sich widersprüchliche Urteilsbegründung von Thomas Kelm, schwer verständlich ins Mikrofon genuschelt, folgte den Plädoyers der Strafverteidiger in Gänze. Der Bochumer Rechtsanwalt Michael Emde, der H. vertrat, hatte den Eindruck erweckt, das Problem des strukturellen Rassismus im Polizeiapparat intellektuell nicht zu durchdringen. Er verstieg sich gar zu der Aussage, Aktivisten hätten „Ausländerfeindlichkeit“ in den Fall „hineininterpretiert“, was „strukturelle Ausländerfeindlichkeit (…) noch befeuert“. Sein Mandant habe „das Beste, was er tun konnte, getan“.

Der Ansicht folgte das Gericht. Die alternativen Handlungsmöglichkeiten, die Thorsten H. zur Verfügung gestanden hätten – auf die hatte sowohl die Staatsanwaltschaft als auch die Anwältin der Nebenklage, Lisa Grüter, verwiesen –, hielt Kelm für realitätsfern.

Lisa Grüter hatte in ihrem Plädoyer dargelegt, dass objektiv keine Gefahr von Mouhamed Dramé ausging. Eine Maschinenpistole aus dem Streifenwagen zu holen, dauere. „Das widerspricht der Erzählung, es habe keine Zeit gegeben.“ Mouhamed sei von der Polizei in die Enge getrieben worden. Mit dem Pfefferspray habe H. ein unsicheres Einsatzmittel gewählt. Die Aufstellung von Fabian S. als „Sicherungsschütze“ zeige, dass H. sich selbst nicht sicher gewesen sei, ob der Einsatz des Reizgases funktioniere. „Es ist schon eigenartig, dass Herr H. für den Fall der Eskalation alle Rollen verteilt hat, für den Erfolgsfall aber nicht“, argumentierte Grüter. Die Rechtsanwältin kritisierte auch die Behauptungen mehrerer Prozessbeteiligter, Rassismus spiele in diesem Fall keine Rolle. Das sei höchstens auf den ersten Blick so, wenn man einen sehr einfachen Begriff von Rassismus habe, der nicht auf dem aktuellen Stand der Wissenschaften sei.

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Diese Tafel hängt im Foyer vor dem Saal 130 des Landgericht Dortmunds, in dem der Prozess gegen fünf der am tödlichen Einsatz gegen Mouhamed Dramé beteiligten Polizisten stattfand. Das 5. Buch Mose scheinen sich die Richter und Schöffen dieses Falls nicht allzusehr zu Herzen genommen haben. (Foto: Valentin Zill)

Das Thorsten H. keinen Alternativplan entwickelt hatte für den Fall, dass der Pfeffersprayeinsatz nicht den gewünschten Effekt zeigt, wertete das Gericht irrwitzigerweise als Argument für den Einsatz dieses Zwangsmittels. Dass H. auch keinen Plan entwickelt hatte, wie Mouhamed zu überwältigen sei, wenn der Pfeffersprayeinsatz geklappt hätte, ignorierten Kelm und Kollegen völlig. Die Zeitspanne, die zwischen dem ersten und dritten Befehl, das Spray einzusetzen, verging, sei „egal“, weil Dramé schon mit seinem Leben abgeschlossen habe, fabulierte Kelm. Während derselben Urteilsverkündung wusste der Richter immerhin, niemand habe Dramé „in den Kopf schauen“ können. Das Gericht stellte fest, Mouhamed Dramé habe keinen Angriff auf die Polizisten geplant – aus Sicht der Beamten habe allerdings eine Angriffsabsicht vorgelegen.

Die Schwurgerichtskammer des Landgerichts Dortmund brauchte 31 Prozesstage in 51 Wochen, um ihr Urteil zu fällen. Das Verfahren war von Anfang an eine Farce. Prozessbeobachter wurden mit harten Sicherheitsmaßnahmen drangsaliert. Auch an der medialen Berichterstattung störten sich Staatsanwaltschaft und Gericht. Jeder Antrag der Nebenklage wurde abgelehnt, auch solche, die darauf abzielten, im Saal ohnehin vorhandene Technik zu nutzen, um prozessrelevante Fotos etwa auch Journalisten zugänglich zu machen. Auf die offenkundig abgesprochenen Aussagen der Polizisten im Zeugenstand und auf der Anklagebank ging das Gericht nicht ein. Auffällig war auch, dass die Polizisten stets freundlich und zuvorkommend behandelt wurden, die Sozialarbeiter aus der Jugendeinrichtung, die als Zeugen aussagten, teils unangenehm vorgeführt und bedrängt wurden. Vor allem aber erließ Thomas Kelm zu Beginn des Prozesses ein Beweiserhebungsverbot für die Aussagen, die vier der fünf Angeklagten in den Tagen nach der Tat bei der Mordkommission der Polizei Recklinghausen gemacht hatten. Das ermöglichte den Angeklagten, in Ruhe fast allen Zeugenaussagen zu folgen, bevor sie sich erstmals selbst in dem Prozess äußerten.

Mouhamed Dramés Brüder Sidy und Lassana weinten während und nach der Urteilsverkündigung. „Familie Dramé ist mit großen Erwartungen an den Rechtsstaat hierhergekommen und bitter enttäuscht worden. Es ist strafrechtlich niemand zur Verantwortung gezogen worden, dass ihr Bruder getötet worden ist“, sagte Lisa Grüter dem WDR.

Nur zwei der Angeklagten, der Todesschütze Fabian S. und die Polizistin Pia Katharina B., hatten sich überhaupt an die Familie des Opfers gewandt. Vor allem die „Entschuldigung“ von Fabian S. war alles andere als ein Schuldeingeständnis: schlichte Selbstviktimisierung.

Die Angeklagten verließen den Gerichtssaal nach der Urteilsverkündung jubelnd als erste.

Solidarische Prozessbeobachter erhoben sich unmittelbar nach der Urteilsverkündigung und riefen: „Justice4Mouhamed!“ und „Das war Mord!“

„Hier ist Recht gesprochen worden“, hatte Oberstaatsanwalt Dombert am 2. Dezember schwadroniert. Das Urteil zeigt: Hier wurde kein Recht gesprochen, hier wurde Recht gebeugt. Auf den Polizeiskandal folgt der Justizskandal. Die ekelhafte Begründung, mit der der Vorsitzende Richter Kelm sein Verdikt vortrug, werden Polizisten in ganz Deutschland als Freibrief verstehen: Schießt einfach – Gesetze gelten für euch nicht.

Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Die Nebenklage prüft, ob sie Revision beantragt. „Das ist sicherlich ein Urteil, das überprüft werden muss“, sagte Lisa Grüter nach der Urteilsverkündung.

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William Dountio spricht auf der Mahnwache vor dem Landgericht Dortmund am 12. Dezember 2024. (Foto: Valentin Zill)

Für den Solidaritätskreis Justice4Mouhamed geht der Kampf um Gerechtigkeit für Mouhamed, gegen Polizeigewalt und Rassismus weiter. Gut 70 Teilnehmer trafen sich nach der Urteilsverkündigung vor dem Landgericht Dortmund zu einer Mahnwache. Viele weinten. William Dountio, Sprecher des Solikreises, erinnerte daran, dass Mouhamed Dramé sich zwei Tage, bevor er von der Polizei erschossen wurde, selbst hilfesuchend an Beamte der Wache Nord gewandt hatte. „Ist es objektive Gerechtigkeit, Mouhamed zu erschießen? Ist das die Botschaft für Schwarze? Wenn wir in Deutschland nichts aus dieser Geschichte gelernt haben, kommt bald der nächste Mord.“ Gerechtigkeit für Mouhamed und all die anderen Opfer tödlicher Polizeigewalt könne nur in einer Bewegung erkämpft werden, nicht vor Gericht. Eine Psychologin, die mit schwer traumatisierten Menschen arbeitet, sagte, es sei unverständlich, wie Richter Kelm über Menschen in psychischen Ausnahmesituationen gesprochen habe. Sie empfinde große Wut, wenn Kelm behaupte, „anders sei’s nicht gegangen“. Eine Lehrerin erzählte, sie habe gelernt, wenn einer ihrer Schüler suizidal sei, rufe sie nicht die Polizei. „Das hier heute ist nicht die Ausnahme, sondern die rassistische Normalität in Deutschland“, stellte ein weiterer Redner fest. Von dem großen Pathos von Demokratie und Zivilisation sei nichts übrig, wenn es darauf ankäme. „Diejenigen, die keine Anzeichen dafür sehen, sind selbst Teil des systemischen Rassismus.“ Die freigesprochenen Angeklagten nannte er „Ganzjahreskarnevalisten, die nichts außer Gewalt haben“.

Zu ihrer Gewalt ist jetzt ein richterlicher Freibrief hinzugekommen.

UZ berichtete ausführlich über den Prozess.

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