Parteien, die ihre Seele verlieren, verlieren auch Wähler

Gewählt – und nun?

Kolumne

Ein Erstwähler erzählte jüngst, warum er als Aktivist von „Fridays for Future“ sein Kreuz nicht bei den Grünen gesetzt hat. Die hätten doch ihre Seele verloren. Das Wahldebakel der grünen Partei hat die Abwanderung gerade vieler junger Wähler zum Ausrufezeichen. Das Argument saß. Parteien, die ihre Seele verlieren, verlieren auch Wähler. Nicht immer sofort, aber wenn die Abkehr einer Führungsequipe vom Basiskonsens der Partei eklatant wird, sammelt sich in den Urnen die Quittung. Das heutige Machtkartell der Grünen opferte alle Friedensbestrebungen, die zu Zeiten der Altvorderen um Petra Kelly, Gert Bastian oder Antje Vollmer prägend waren, in ideologischer Verblendung einem fast schon rasenden Bellizismus. Das wirtschafts- und außenpolitische Erscheinungsbild der Grünen ist katastrophal.

09 Kolumne koenig hartmut 1331 - Gewählt – und nun? - AfD, Bündnis 90/Die Grünen, Linkspartei - Positionen
Hartmut König

Die SPD erreichte das schlechteste Ergebnis, das die Sozialdemokratie je bei einer bundesweiten Wahl erzielte. Ihre Führung folgt den politischen und ökonomischen Unterwerfungsplänen der USA widerspruchslos, prügelt auf Reste von Friedensbesonnenheit in den eigenen Reihen ein und bemüht die falsche Metapher „Zeitenwende“ für irrsinnige Rüstungsausgaben. Der hiesige Wirtschaftsstandort wird durch Washingtons Egoismen, Deutschlands ineffektive Energiebeschaffung und Verstrickung in kräftig zurückschlagenden Boykottunsinn in einer Weise lädiert, die die Welt staunen lässt. Im Ehrgeiz des Sozialdemokraten Boris Pistorius reifen Pläne für die Militarisierung der Gesellschaft, die sich als „Kriegstüchtigkeit“ kostümiert. Bundeskanzler Scholz könnte von Gerhard Schröder gelernt haben, wie man mit der Weigerung, sich von den USA in einen (Irak-)Krieg hineinziehen zu lassen, Wahlen gewinnen kann. Manchmal glaubte man fast, er hätte es kapiert. Bis er jedes Mal umfiel. Mehr als eine halbe Million ehemalige SPD-Wähler sind nun zur AfD gewandert. Selbst „Die Zeit“ bemerkte, dass die in den Wählerumfragen geäußerten Ängste der Menschen doch eine klare Gebrauchsanweisung zum Umdenken geliefert hätten: Furcht vor Ausweitung des Krieges, hohe Kriminalitätsrate, drohender Wohlstandsverlust, abnehmende soziale Sicherheit, unbewältigte Immigration, Folgen des Klimawandels. An die Stelle von Analyse, Selbstkritik und Kurskorrektur träten aber nur Bestürzung und Beschwichtigung.

„Die Linke“ ist gleichfalls eine große Verliererin der Wahl. Der Kurs der Parteiführung ist gescheitert. Viele Aktivisten verzweifelten daran, dass von der Partei keine entschiedene Opposition gegen die Ampel-Verwerfungen ausgeht und dass auf sie in der Friedensfrage kein Verlass mehr ist.

Aber der Zulauf zur extrem rechten AfD? Tja, Rabenseelen sind eben auch Seelen. Die halten Kurs, ihre Klientel applaudiert und von der Regierungspolitik Enttäuschte meinen, hier Gehör und Halt zu finden. Vorsicht! Während die Bevölkerung großenteils nicht glauben mag, dass eine Merz-Regierung aus der Krise führen würde, bewirkt schwarzer Machtverlust im Osten bereits lokale Flirts mit der AfD. Und deren Herolde haben Kreide gefressen. Eine AfD an der Macht würde die Interessen des Kapitals und nicht die sozialen Forderungen der Werktätigen verteidigen. Ihre NATO-Gläubigkeit ist systemkonform. Der Ruf nach Abwendung eines erneuten Weltkrieges und verbesserten Beziehungen zu Russland, der so vielen AfD-Wählern am Herzen liegt, verortet sich bei den Blauen, weil – mit Ausnahme des noch jungen Bündnisses Sahra Wagenknecht – keine andere im Bundestag vertretene Partei dieser Zukunftsbesonnenheit eine Heimat geben will. Auch um solche Vernunft von den Leimruten der AfD zu holen, braucht es eine andere Politik im Lande. Die zu erzwingen, erfordert linkerseits eine starke außerparlamentarische Bewegung. Auf der Straße zu erstreiten, dass vitales Bürgerinteresse in den Parlamenten nicht länger weggeschoben wird, ist und bleibt ein veritabler gesellschaftlicher Auftrag für Kommunisten.

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"Gewählt – und nun?", UZ vom 5. Juli 2024



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