Stefan Wolf, der Präsident des „Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall“, blickte Mitte August in einem Gespräch mit der „Funke Mediengruppe“ schon einmal über den Wahltag hinaus: „Wir werden in den nächsten Jahren über ein Renteneintrittsalter von 69 bis 70 Jahren reden müssen“, zitiert ihn am 18. August die „Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ)“.
Angestoßen hatte die Debatte, der die herrschenden Medien seitdem breiten Raum geben, im Frühsommer ein Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium, das von Peter Altmaier (CDU) geführt wird. Darin wird von „schockartig steigenden Finanzierungsproblemen“ der staatlich organisierten Rentenversicherung gesprochen und angeregt, über eine erneute Anhebung der gesetzlichen Ruhestandsgrenze zu diskutieren. Seitdem feuern „Bild“, „FAZ“ und die an ihnen orientierten (un)sozialen Medien Breitseite auf Breitseite gegen die bestehende, von SPD und Grünen in ihrer ersten gemeinsamen Regierungszeit von 65 auf 67 angehobene Grenze für den Eintritt in einen ungeminderten Altersruhestand.
Die Grundlinien der heutigen Debatte sind seit dem sogenannten „Rentenkrieg“ von 1956/57 (vgl. dazu UZ vom 16. Juli 2021) unverändert: Die Versorgung der nicht mehr berufstätigen älteren Menschen ist selbst unter kapitalistischen Bedingungen relativ problemlos zu finanzieren über eine von Lohnabhängigen und Unternehmen paritätisch gezahlte Umlage, an der – mit den entsprechenden Modifikationen – auch Selbstständige und Beamte beteiligt werden. Gegen diese durchgerechnete Linie der Vernunft toben diejenigen an, die mit wenig Argumenten und umso mehr Demagogie die noch bestehenden umlagefinanzierten Bestandteile der Rente zurückdrängen wollen zugunsten einer erzwungenen Beteiligung der Lohnabhängigen am Roulettetisch der weltweiten Finanzmärkte, die ihnen dann – wenn sie Glück haben – Miete, Nahrung und Kleidung im Alter bezahlen sollen.
Gesunder Menschenverstand …
Das Perfide an der jetzt vom Zaun gebrochenen Debatte um die Rente mit 70 ist, dass es den Rittern der Kapitalmärkte gelingen könnte, daraus eine Debatte „Alt gegen Jung“ zu machen. Nichts wäre falscher als das. Die Gewerkschaft „ver.di“ hat das in ihren Informationen „Wirtschaftspolitik aktuell“ vom Juni 2021 so auf den Punkt gebracht: „Tatsächlich geht es diesen Leuten darum, die Arbeitgeber vor höheren Beiträgen oder Steuern zu bewahren. Die Beschäftigten wären auf jeden Fall die Leidtragenden, und zwar besonders die Jüngeren: Sie müssen länger Beiträge zahlen und bekämen kürzer Rente – wenn sie die überhaupt erleben. Wer eher aufhören will, bekommt weniger Rente. Etwas niedrigere Beiträge zur gesetzlichen Rente – die zur Hälfte die Arbeitgeber bezahlen müssen – sollen die Beschäftigten durch höhere Privatvorsorge ausgleichen. Ohne Arbeitgeberbeiträge.“
Mit „Gesunder Menschenverstand“ überschreibt Klaus Müller in dem Büchlein „Die Rente“ das Einführungskapitel zum Thema der Alternativen zur drohenden Rentenkürzung und führt aus: „Ein bisschen gesunder Menschenverstand reicht, um einzusehen, dass die von neoliberalen Ökonomen und arbeitgebernahen Institutionen geforderte private, kapitalgedeckte Altersvorsorge keine Alternative sein kann, allenfalls eine ergänzende, gleichwohl in vielen Fällen überflüssige Vorsorge für die Besserverdienenden. Die Armen, deren niedrige Renten die Armut bis in den letzten Lebensabschnitt hinein verlängern, haben keine Möglichkeit, privates Vermögen anzuhäufen, schon gar nicht in einem Umfang, der erforderlich wäre, der Armut im Alter zu entgehen. Da ändern staatliche Zuschüsse prinzipiell nichts.“
… und die Entkräftung der Demagogie
Das immer wiedergekäute Mantra der Umlagefeinde lautet: Nötig sei das alles, weil angesichts der steigenden Lebenserwartung und der sinkenden Geburtenraten sonst immer weniger Junge immer mehr Alte versorgen müssten – und das ginge irgendwann einfach nicht mehr. Dazu sagt ver.di in einer bereits 2016 erschienenen Broschüre überwiegend zu Recht: „Der demografische Wandel ist nichts Neues. 1910 kamen in Deutschland auf einen über 65-Jährigen etwa 10,3 Personen im erwerbsfähigen Alter zwischen 20 und 65 Jahren. 2010 war dieses Verhältnis nur noch eins zu drei. Trotz der damit einhergehenden erheblichen Zunahme der ‚Versorgungslasten‘ hat sich unser Wohlstand in diesem Zeitraum vervielfacht. Das wird auch in Zukunft geschehen – zumal der prognostizierte demografische Wandel geringer ausfallen dürfte als in der Vergangenheit: So soll laut Statistischem Bundesamt das Verhältnis von Rentnern zu Erwerbsfähigen bis 2040 auf 1 zu 1,8 und bis 2060 auf 1,6 sinken. Eine umfassende Betrachtung muss zudem auch junge Menschen als ‚Versorgungslasten‘ in die Berechnung einbeziehen – schließlich sind sie (wie ältere Menschen) nicht erwerbstätig. 1910 kam in Deutschland auf einen über 65-Jährigen oder unter 20-Jährigen etwa eine Person im erwerbsfähigen Alter zwischen 20 und 65 Jahren. Bis 2010 hatte sich dieses Verhältnis auf 1,5 verbessert. Laut Statistischem Bundesamt soll es bis 2040 wieder auf 1 zu 1,1 zurückgehen. Es wäre dann immer noch günstiger als vor 100 Jahren.“
Kurz und gut: Die Bevölkerungsstruktur verschiebt sich in allen Industriestaaten schon seit dem späten 19. Jahrhundert – ohne dass die Sozialsysteme zusammengebrochen wären. Das könnte durch den sich beschleunigenden Niedergang des kapitalistischen Systems vielleicht noch passieren – eines aber wäre dafür mit Sicherheit nicht verantwortlich: die umlagefinanzierte Altersversorgung.
Wachsende Altersarmut schon jetzt
Einschnitte in die Systeme der Altersversorgung haben in der Regel am Tag nach den entsprechenden Gesetzesbeschlüssen noch keine für alle spürbaren Auswirkungen. Sie entfalten ihre Wirkungen erst in den Jahren danach – dann allerdings mit sich steigernder Wucht. Dies trifft auch auf die von der SPD/Grüne-Regierung Anfang dieses Jahrhunderts gegen gewerkschaftlichen Widerstand durchgedrückten Änderungen in der Sozialgesetzgebung zu.
Schon ohne weitere Einschnitte werden sich diese von den Herren Schröder, Riester, Fischer und Trittin eingeleiteten Trends fortsetzen. Insofern wäre es sinnvoll, den Kampf um die Würde im Alter nicht nur als Abwehrkampf gegen weitere Zumutungen zu führen, sondern als Kampf um die Rückkehr zur Rente mit 65 und für die vollständige Durchsetzung des urvernünftigen Umlageverfahrens unter Einbeziehung aller aktiv im Berufsleben Stehenden und insbesondere der vollen paritätischen Beteiligung der Unternehmer in diesem Lande.
Drei kleine Empfehlungen
Wer sich – vor und nach den Wahlen – mit weiteren Argumenten für die Rentendebatte wappnen will, dem seien drei Lektüreempfehlungen mit auf den Weg gegeben:
- Immer noch aktuell, prägnant und mit vielen Grafiken angereichert ist die (leider nur als PDF abrufbare) Broschüre der Abteilung Wirtschaftspolitik bei der Gewerkschaft ver.di, die im Oktober 2016 unter dem Titel „Die gesetzliche Rente stärken – Gutes Leben im Alter ist möglich“ erschienen ist.
- Alle grundlegenden Zusammenhänge erläutert Klaus Müller (bis 1991 Professor an der TU Karl-Marx-Stadt) in dem bei PapyRossa 2021 in der Reihe „Basiswissen“ erschienenen Büchlein „Die Rente“.
- Wer darüber hinaus Zeit und Lust hat, sich mit einer grundsätzlichen Alternative zu den zuweilen etwas gebetsmühlenhaft und intellektuell öde anmutenden Rentendebatten unter kapitalistischen Bedingungen auseinanderzusetzen, ist gut bedient mit dem 1982 beim Rita G. Fischer-Verlag erschienenen Buch „Die Sozialversicherung in der DDR“ von Werner Ruß.
- Grafik mit freundlicher Genehmigung aus der Broschüre: „Die gesetzliche Rente stärken – Gutes Leben im Alter ist möglich“ herausgegeben vom ver.di Bundesvorstand, abrufbar unter t1p.de/Rentenbroschuere