Am 1. November 1926 ging Mussolini zur offen terroristischen Diktatur über

Gestützt durch Kapital und Vatikan

Von Gerhard Feldbauer

Mit dem Verbot der kommunistischen und sozialistischen, aber auch aller antifaschistischer Positionen beschuldigter Presseorgane leitete Mussolini am 1. November 1926 den Übergang zur offen terroristischen Diktator ein. Das Interdikt betraf die „Unita“ der Italienischen Kommunistischen Partei (PCI), den „Avanti“ der Sozialistischen Partei (PSI), die Gewerkschaftszeitung „Battaglia sindacali“ und bekannte bürgerliche Zeitungen wie die Turiner „Stampa“ oder den Mailänder „Corriere della Sera“, die sich in der vorangegangenen Krise des faschistischen Regimes nicht offen hinter den „Duce“ gestellt hatten. Am 5. November wurden alle Parteien und Organisationen, ausgenommen der Partito Nazionale Faschista (PNF) und seine Organisationen, verboten. Die faschistische Parlamentsmehrheit verabschiedete Ausnahmegesetze, nach denen Mussolini als Regierungschef nicht mehr dem Parlament rechenschaftspflichtig war, sondern nur noch dem König, was eine reine Formalität war. Regierungsdekrete bedurften keiner legislativen Zustimmung mehr. Alle kommunistischen und sozialistischen Abgeordneten, derer die Polizei habhaft werden konnte, wurden verhaften, darunter am 8. November PCI-Generalsekretär Antonio Gramsci. Dem PSI-Vorsitzenden Pietro Nenni gelang es, nach Paris zu fliehen.

In den revolutionären Nachkriegskämpfen besetzten die Arbeiter im August/September 1920 alle großen Betriebe in Norditalien, gewählte Fabrikräte übernahmen die Leitung der Produktion (die sie trotz Sabotage des größten Teils des technischen Personals durchweg zu 70 Prozent aufrechterhielten) und bildeten bewaffnete Rote Garden zur Verteidigung der Unternehmen. Im Süden nahm die Inbesitznahme von Ländereien der Latifundistas teilweise Massencharakter an. Die Regierung musste durch Dekret das Vorgehen der Bauern legalisieren.

Da dem Imperialismus in Italien zu dieser Zeit nicht wie in Deutschland eine mehrheitlich revisionistische und chauvinistische Positionen vertretende sozialdemokratische bzw. sozialistische Führung zur Niederschlagung der revolutionären Arbeiter zur Verfügung stand, setzten seine reaktionärsten Kreise auf Mussolini. Von dem Verband der Großindustriellen Confindustria und der Confederazione dell‘Agricoltura der Latifundistas sowie aus vielen Unternehmerkassen (Conti, Pirelli, Agnelli, Benni, Donegani, Bennedetti) erhielten die Faschisten reichlich Gelder. Der im Februar 1922 neu gewählte Papst Pius XI. ergriff offen Partei für die Faschisten. Zur Vorbereitung seines Machtantritts formierte Mussolini im November 1921 den Partito Nazionale Faschista (PNF).

Der Marsch auf Rom

Vom in Neapel tagenden PNF-Kongress marschierten am 22. Oktober 40 000 Faschisten nach Rom. Mussolini begab sich nach Mailand, wo er mit der Führung der Confindustria mit Gummikönig Pirelli an der Spitze zusammentraf, die Vittorio Emanuele III. das Signal zur Ernennung des „Duce“ zum Regierungschef gab. Mussolini gab den Herren noch einmal zu verstehen, dass seine antikapitalistischen Forderungen nicht ernst zu nehmen und die Sicherung der Interessen der Wirtschaft und die „Wiederherstellung der Arbeitsdisziplin in den Betrieben“ für ihn oberstes Anliegen seien. Pirelli war beeindruckt. „Welch ein Mann, dieser Mussolini, mit dem man sich so sachkundig über derartige Fragen unterhalten kann“. Nachdem Pirelli das Signal gegeben hatte, beauftragte der König den in Rom eingetroffenen Mussolini am 30. Oktober mit der Regierungsbildung. Er übergab die Exekutive einer Partei, die im Parlament von 508 Sitzen nur 36 belegte. Noch am selben Tag nahmen der Monarch und Mussolini – zum Entsetzen vieler Römer – eine Parade der faschistischen Horden und einer Formation der königlichen Armee ab.

Am nächsten Tag legitimierten Nationalisten, Liberale und die katholische Volkspartei mit ihrem Eintritt in die Regierung den Putsch Mussolinis. Die bürgerliche Parlamentsmehrheit sprach Mussolini mit 306 Stimmen das Vertrauen aus. Es gab nur 106 Gegenstimmen, vor allem aus den Arbeiterparteien. Neben der Monarchie musste Mussolini auch den parlamentarischen Rahmen beibehalten. Der König, die Confindustria und der Vatikan wollten so die bürgerlichen Parteien besänftigen und Widerstand ihrerseits vorbeugen. Dem entsprechend besetzte der PNF nur vier der 15 Kabinettsressorts, darunter Mussolini die für Äußeres und Inneres. Zwei am Putsch beteiligte hohe Militärs übernahmen das Kriegsministerium bzw. das Marineressort. Sieben Minister der bürgerlichen Parteien verschafften dem seinem Charakter nach faschistischen Kabinett ein parlamentarisch verbrämtes, bürgerlich-demokratisches Mäntelchen und nährten unter dem faschistischen Regime noch mit Vorbehalten gegenüberstehenden bürgerlichen Politikern die Illusion, der „Duce“ müsse mit den bürgerlichen Parteien die Macht teilen und könne so unter Kontrolle gehalten werden.

Mit Regierungsdekreten hob der „Duce“ die Besteuerung aller Industrie- und Bankwerte der Besitzenden auf und widerrief das Gesetz zur Übereignung unbebauten Großgrundbesitzerlandes an landlose und arme Bauern. Beseitigt wurde der Achtstundenarbeitstag, für den die Faschisten sich demagogisch ausgesprochen hatten. Die Löhne sanken um 13 Prozent und stagnierten danach. Mussolini ernannte einen Gran Consiglio del Fascismo, der Gesetze erlassen und dabei das Parlament übergehen konnte.

Die Matteotti-Krise

Zur Konsolidierung seiner Macht bereitete der „Duce“ eine betrügerische Scheinwahl vor. Ein neues Wahlgesetz legte fest, dass die Liste mit der Mehrheit der Stimmen zwei Drittel der Parlamentssitze erhält. Am 6. April 1924 traten auf einer gemeinsamen Regierungsliste für den PNF führende Industrielle wie der Präsident der Confindustria, Alfano Benni, und Gino Olivetti vom gleichnamigen Elektrokonzern an. Über die Liste zogen 375 Abgeordnete ins Parlament ein, darunter 275 Mitglieder des PNF. Die übrigen Parteien erreichten 161 Mandate, von denen 24 bzw. 22 auf die Einheitssozialisten (die sich von der PSI getrennt hatten) und Sozialisten und 19 auf die Kommunisten entfielen.

Proteste gegen die manipulierten Wahlen stürzten das faschistische Regime in eine existenzielle Krise, die sogenannte Matteotti-Krise; benannt nach dem Führer der Einheitssozialisten, der die Verbrechen der Faschisten anprangerte und forderte, die Wahl für ungültig zu erklären. Am 10. Juni erschlug ein Mordkommando Matteotti. Seine Leiche wurde erst am 16. August gefunden. Die bürgerliche Opposition beschränkte sich darauf, die Auflösung der faschistischen Miliz und die Wiederherstellung der Gesetzlichkeit zu verlangen, und schreckte vor der Forderung nach dem Rücktritt der Mussolini-Regierung zurück. Bis Ende 1924 verließen 182 291 Mitglieder den PNF, dessen Zahl nach der offiziellen Statistik nur noch 599 988 betrug. Selbst führende Faschisten wollten nachgeben und einen Kompromiss mit den Liberalen schließen. Mussolini entließ mehrere seiner engsten Mitarbeiter, darunter den Polizeichef, General Emilio De Bono. Schließlich trat er selbst als Innenminister zurück.

Kapital und Klerus retten den „Duce“

Zur Rettung Mussolinis traten die Confindustria und der Vatikan auf den Plan. Der Industriellenverband versicherte Mussolini am 24. Juni seiner „unwandelbaren Treue“ und nahm scharf gegen die „intrigante Opposition“ Stellung. Nachdem Mussolini dem Vatikan Konkordatsverhandlungen zur Lösung der 1870 vom Papst provozierten „römischen Frage“ signalisierte hatte, lobte der „Osservatore Romano“ dessen „feste Haltung“ und wandte sich gegen antifaschistische Aktionen. Dank dieser Hilfe entging Mussolini seinem Sturz und konnte im November 1926 die parlamentarisch verschleierte Etappe des Faschismus beenden und seine offene terroristische Diktatur errichten.

Das Regime kerkerte über 2 000 Kommunisten ein, darunter Gramsci, der unter Bruch seiner Abgeordneten­immunität verhaftet wurde. Im Mai 1928 verurteilte ein Sondertribunal 37 führende Kommunisten zu langjährigen Kerkerstrafen. Auch viele bürgerliche Oppositionelle, die in der Matteotti-Krise gegen die Diktatur aufgetreten waren, wurden verfolgt, umgebracht, eingesperrt oder mussten emigrieren.

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"Gestützt durch Kapital und Vatikan", UZ vom 4. November 2016



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