UZ: Im vergangenen Jahr hat es insgesamt 2219 Angriffe auf Flüchtlinge und ihre Unterkünfte gegeben. Diese Zahlen hat die Bundesregierung auf eine von Ihnen eingebrachte parlamentarische Anfrage genannt. Halten Sie die übermittelten Zahlen für realistisch, oder gehen Sie von einer wesentlich höheren Dunkelziffer der Gewalttaten aus?
Ulla Jelpke: Zum einen müssen wir Nachmeldungen abwarten: Erfahrungsgemäß werden zahlreiche Taten nachträglich ergänzt, sodass die Zahl sich im Nachhinein noch erhöhen wird.
Zum anderen müssen wir von einer wesentlich höheren Dunkelziffer ausgehen: Viele Opfer rassistischer Angriffe trauen sich nicht, sich an die Polizei zu wenden und Anzeige zu erstatten. Von vielen Vorfällen erfährt die Polizei also gar nichts. Aber selbst wenn Anzeige erstattet wird, tut sie sich häufig schwer damit, Übergriffe ernst zu nehmen und eine rassistische Tatmotivation zu erkennen. Deswegen gibt es ja regelmäßig eine Diskrepanz zwischen den offiziellen Zählungen und den Zahlen von Opferberatungsstellen.
UZ: Haben Sie ein Beispiel?
Ulla Jelpke: In Wurzen haben vor wenigen Tagen zwei vermummte Männer auf eine schwangere Frau aus Eritrea eingeschlagen, die danach ins Krankenhaus musste. Die Männer sollen der Frau zugerufen haben, sie wollten „keine Ausländerbabys“. Trotzdem teilten die zuständigen Beamten mit, sie könnten nicht sagen, ob die Tat einen „ausländerfeindlichen“ Hintergrund hatte. Gerade in Anbetracht der rassistisch aufgeladenen Stimmung und der großen Zahl an flüchtlingsfeindlichen Taten in Wurzen ist das nicht nachvollziehbar.
UZ: Trotzdem: Im Vergleich zu 2016 sind die Zahlen der rassistischen Angriffe gesunken. Sie stimmt das trotzdem nicht zufrieden?
Ulla Jelpke: Ich sehe keinen Grund zur Zufriedenheit, solange wir immer noch durchschnittlich über fünf Straftaten pro Tag haben. Rassistische Gewalt gehört also immer noch zum Alltag in Deutschland. Sieht man sich an, mit welcher Selbstverständlichkeit AfD-Politiker wie Poggenburg und Höcke mittlerweile ihre rassistische Hetze vortragen, dann ist in Zukunft wieder von einer Zunahme rassistischer Gewalt auszugehen.
UZ: Wie könnten Flüchtlinge besser vor rechter Gewalt geschützt werden?
Ulla Jelpke: Rassismus und rassistische Gewalt müssen endlich als drängendes gesellschaftliches Problem anerkannt werden. Davon sind wir aber leider meilenweit entfernt.
Der Koalitionsvertrag enthält keine substanziellen Vorschläge, wie Rassismus bekämpft werden kann. Stattdessen nähren SPD und CDU/CSU einen Generalverdacht gegen Muslime: der Islam bzw. Muslime kommen in der Koalitionsvereinbarung fast ausschließlich im Kontext von „Extremismusprävention“ und Sicherheit vor.
Was in der Praxis benötigt wird: Menschen, die von rassistischen Pöbeleien und tätlichen Angriffen betroffen sind, brauchen Zugang zu Beratungsstellen, die ihre Erfahrungen ernst nehmen, Anwälte vermitteln und sie gegebenenfalls beim Kontakt mit der Polizei und im Strafverfahren unterstützen.
Immer noch passiert es leider viel zu häufig, dass die Polizei mit den Tätern statt mit den Opfern spricht und deren Version des Geschehenen aufnimmt. So wird eine effektive Strafverfolgung verhindert, schlimmstenfalls kommt es sogar zu einer Täter-Opfer-Umkehr.
Auch in den Staatsanwaltschaften und Gerichten müssen sich Dinge ändern. 2015 wurde zwar der Strafzumessungsparagraf erweitert, so dass rassistische, fremdenfeindliche oder sonstige menschenverachtende Tatumstände bei der konkreten Strafzumessung stärker berücksichtigt werden müssen. Allerdings kritisieren Opferberatungsstellen, dass viele Richterinnen und Staatsanwälte sich bei der Aufklärung rassistischer Tatmotive weiterhin äußerst schwertun.
UZ: Welche Verantwortung trägt die etablierte Politik an den rechten Gewalttaten?
Ulla Jelpke: Ermutigt werden die rechten Täter nicht nur durch das Gerede von Bürgerkrieg und „Umvolkung“, wie es von AfD, Pegida und anderen rechten Gruppierungen betrieben wird, sondern auch durch die rassistische Stimmungsmache der Unionsparteien, die keine Gelegenheit auslassen, Verschärfungen im Umgang mit Flüchtlingen zu fordern.
Ein Beispiel ist die Debatte zur Altersfeststellung bei minderjährigen Flüchtlingen. Die CSU forderte erst kürzlich die Einführung einer flächendeckenden verpflichtenden medizinischen Altersfeststellung. Diese Verfahren sind erstens ungenau und greifen zweitens massiv in die Grundrechte der Betroffenen ein. Mit ihrer Forderung leistet die CSU pauschalen Verdächtigungen Vorschub, diese Jugendlichen würden falsche Angaben machen, um sich Vorteile im Asylverfahren oder beim Familiennachzug zu „erschleichen“.
UZ: Nicht unbedeutend dürfte in diesem Zusammenhang auch das Erstarken der AfD sein. Wie nehmen Sie persönlich diese Partei und ihre Abgeordneten wahr, die seit der letzten Bundestagswahl erstmalig im Bundestag vertreten ist?
Ulla Jelpke: Zu Beginn der Wahlperiode hatte ich den Eindruck, dass die AfD-Abgeordneten im Bundestag etwas gemäßigter auftreten, um sich einen bürgerlichen Anstrich zu verleihen. Aber das ist mittlerweile anders: Klima und Tonfall verschärfen sich von Woche zu Woche. Die AfD setzt auf kalkulierte Provokationen und zeigt ihre völkisch-rassistische Fratze mittlerweile ohne Zurückhaltung.
Außerdem ist zu sagen, dass die AfD am laufenden Band Anträge stellt. Diese sind voller Fehler und dilettantisch in der Ausführung. Da ist von „tribalistischen“ Strukturen bei Migranten die Rede, es wird „Schutz vor ausländischen Gefährdern“ gefordert, obwohl die meisten Gefährder deutsche Staatsbürger sind – es geht überhaupt nicht um sachliche Politik, sondern allein darum, das rassistische und reaktionäre Weltbild dieser Partei zu verbreiten.
UZ: Und welche Gegenstrategien empfehlen Sie?
Ulla Jelpke: Es ist wichtig, die Lügen der AfD als solche zu entlarven: Nach außen inszeniert sie sich als Partei der „kleinen Leute“, dabei würde ihr neoliberales Programm die Umverteilung von unten nach oben noch beschleunigen. Dieser Partei geht es mitnichten darum, Verbesserungen für die Menschen zu erreichen, sondern darum, die Bevölkerung zu spalten.
Bei der Auseinandersetzung mit der AfD muss auch deutlich werden, welche Überschneidungen es zwischen ihren Positionen und der Politik der etablierten Parteien gibt. Besonders die Unionsparteien geben sich alle Mühe, die AfD von rechts zu überholen um ihr so das Wasser abzugraben. Das sieht man auch am Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD. Das Kapitel zur Asyl- und Flüchtlingspolitik liest sich so, als hätte die AfD mit am Verhandlungstisch gesessen. Vorhaben wie die Festsetzung einer Obergrenze für Asylanträge und die dauerhafte Aussetzung des Familiennachzugs bei subsidiär Schutzberechtigten wären bis auf wenige Ausnahmen vor einiger Zeit so nicht durchsetzbar gewesen und zeigen, wie weit sich das gesellschaftliche Klima nach rechts verschoben hat. Viele AfD-Positionen sind längst mehrheitsfähig.
Der Kampf gegen die AfD darf nicht isoliert im Parlament geführt werden, sondern wir müssen der Rechtsverschiebung und der menschenverachtenden Hetze auch auf der Straße entschlossen entgegentreten.