Statistik zu „politisch motivierter Kriminalität“ sagt nichts aus

Gesinnungstat

Frühlingserwachen im Bundesministerium des Innern (BMI). Alljährlich Ende Mai das gleiche Ritual. Im Licht der für das Vorjahr vorgelegten Polizeikriminalstatistik (PKS) sonnt sich der Innenminister in vermeintlichen Erfolgen, sofern die Deliktzahlen zurückgegangen sind, oder spricht bedenkenvolle Warnungen aus, wenn das Zahlenwerk ein Ansteigen der Kriminalität signalisiert.

Bei der Allgemeinkriminalität scheint sich angesichts der PKS-Daten für 2019 nicht viel verändert zu haben: 5.436.401 Straftaten und 2.019.211 Tatverdächtige, gegenüber 2018 ein leichter Rückgang um 2,1 beziehungsweise 1,6 Prozent. „Deutschland ist wieder ein Stück sicherer geworden“, verkündet Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU). Steigerungsraten von 64,6 Prozent in der Deliktgruppe „Verbreitung kinderpornografischer Schriften“, plus 35 Prozent beim Computerbetrug und plus 26 Prozent beim Kreditbetrug lassen hieran zweifeln.

Zusammen mit der PKS wird seit 2001 eine zweite Statistik unter der Bezeichnung „Politisch motivierte Kriminalität“ (PMK) vorgestellt. Hierunter fallen Staatsschutzdelikte im weitesten Sinne. Solche, die zum Kernbereich des politischen Strafrechts zählen, wie zum Beispiel Volksverhetzung oder Propagandadelikte, aber auch all die Delikte, hinter denen bloß ein politisches Motiv vermutet wird. Eine weite Spanne – vom Steinwurf aus der Mitte einer Demonstration über das Absondern eines antisemitischen Hasskommentars im Netz bis hin zu einer Mordtat mit rassistischem Hintergrund. Ihre Gesamtzahl 2019: 41.177 Fälle. Die registrierten Straftaten aus rechter und rassistischer Gesinnung („PMK-rechts“) steigerten sich im Vergleich zu 2018 um 9,4 Prozent auf 22.342. Antisemitische Delikte legten um 13 Prozent zu. Der Trend der Vorjahre verfestigt sich damit.

Die Zahlen der PMK bieten nicht mehr als eine Tendenz, sie spiegeln nur einen Ausschnitt der realen Situation. Seit es die PMK gibt, kritisieren Kriminologen und Opferverbände ihre geringe Aussagekraft und das große Dunkelfeld. Anders als die PKS, die den Stand bei Ende des jeweiligen Ermittlungsverfahrens wiedergibt, ist die PMK eine reine „Eingangsstatistik“: Die Einordnung eines deliktischen Vorgangs in die Kategorie „Politisch motiviert“ erfolgt bei Erstaufnahme des Sachverhalts. Selten aber ist der innere Tatbestand einer Handlung zu einem solch frühen Zeitpunkt bereits ersichtlich. Es bleibt in der Praxis dem einzelnen Polizeibeamten überlassen, ob er das Feld „Tatmotivation“ im Erfassungsbogen ausfüllt oder offen lässt. In der Mehrheit der Fälle ist der Täter zu Beginn der Ermittlungen nicht bekannt oder der Verdächtigte schweigt zum Anlass der Tat – eine Motivlage lässt sich dann gar nicht feststellen.

Amnesty International betont in der Studie „Leben in Unsicherheit“ aus dem Jahr 2016, dass die typischen Zielgruppen rechter Gewalt – Wohnsitzlose, Menschen mit Behinderung oder Menschen mit Migrationshintergrund – aus Angst nur selten Anzeige erstatten. Vergleicht man die statistischen Erhebungen, die Bürgerrechtsvereinigungen wie die „Amadeu Antonio Stiftung“ seit Jahren zu der Häufigkeit rechter Gewalttaten durchführen, mit dem Datenmaterial der Kriminalämter in Bund und Ländern, zeigen sich erhebliche Diskrepanzen: So starben im Zeitraum von 1990 bis 2015 nach Aufzeichnungen der Polizei 75 Menschen an rechter Gewalt, die Stiftung ermittelte für die gleiche Zeit 178 Tote.

Trotz der seit Jahren vorgetragenen Kritik hat es sich auch angesichts der polizeilichen Versäumnisse im NSU-Verfahren nicht bis ins Bundesinnenministerium herumgesprochen, dass die PMK auf eine effizientere Datenerfassung gestützt werden muss. Statt zu reagieren, konzentriert sich das BMI auf eine Verbreiterung der Datenbasis an ganz anderer Stelle: Als neue Merkmalskategorie der PMK zur besseren Klassifizierung „linker Straftaten“ wurde für 2019 erstmals die „Deutschfeindlichkeit“ eingeführt. Damit hat ein Lieblingsbegriff der AfD Eingang in die PMK gefunden.

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"Gesinnungstat", UZ vom 5. Juni 2020



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