Arme werden immer ärmer
Die deutschen Konzerne schütteten im vergangenen Jahr so viele Dividenden an ihre Aktionäre aus wie nie zuvor. Insgesamt wanderten 45 Milliarden Euro in die Taschen der Anteilseigner. Zugleich konnten sich mehr als eine Million Menschen nicht einmal jeden zweiten Tag eine vollwertige Mahlzeit leisten. Im Jahr zuvor kletterte die Zahl der von Armut Betroffenen auf die Rekordzahl von 16,7 Prozent.
Es ist eine Binsenweisheit, dass die Armen immer ärmer und die Reichen immer reicher werden. Schon der venezianische Mönch Ortes erklärte im 18. Jahrhundert: „Großer Reichtum von einigen ist stets begleitet von absoluter Beraubung des Notwendigen bei viel mehr anderen.“ Er sah dies als ein Naturgesetz und schlussfolgerte die Notwendigkeit der Kirche, die die größte Not lindern solle. Die Arbeiterbewegung entschied sich dazu, dies lieber selbst in die Hand zu nehmen und nicht nur Symptome zu bekämpfen, sondern das Problem an der Wurzel zu packen und die Herrschaft der Bourgeoisie zu stürzen.
Gesetz der kapitalistischen Akkumulation
Reichtum und Armut entstehen tatsächlich gesetzmäßig, allerdings nicht auf Grund eines göttlichen oder eines Naturgesetzes, sondern auf Grund der kapitalistischen Produktionsweise. Die fortwährende Anhäufung von Kapital ist notwendig, um den Produktionsprozess auf erweiterter Stufenleiter führen zu können, ihn auszudehnen. Sie führt zu einer Erhöhung des Anteils der Maschinen im Produktionsprozess. Die Nachfrage nach Arbeitskräften verringert sich im Verhältnis zur Größe der Bevölkerung und insbesondere zur steigenden Größe der Arbeiterklasse. Es entsteht eine aus Sicht des Kapitals überschüssige Bevölkerung, die sogenannte industrielle Reservearmee. Sie wird in schlechte Arbeits- und Lebensbedingungen gepresst und dient dazu, die gesamte Arbeiterklasse unter Druck zu setzen und ihre Lage zu verschlechtern. Teile von ihr werden unter das sogenannte Existenzminimum gedrückt und besonders der schrankenlosen Auspressung ihrer Arbeitskraft ausgesetzt.
Der Druck der Profitsteigerung und der Druck durch tausende wartende Arbeitslose, die den Arbeiter ersetzen können, führt zur Steigerung des Arbeitsdrucks, zur Intensivierung der Arbeit und zur Verschlechterung der Lage großer Teile der Arbeiterklasse, ihrer Gesundheit und ihrer gesamten Existenzbedingungen.
Druck im Kessel erhöhen
Die Bundesregierung will an zwei Stellen den Druck im Kessel erhöhen. Sie plant eine „Vereinfachung“ des Sozialgesetzbuches und hat bereits eine Verschärfung des Asylrechts und der darin enthaltenen sozialen Rechte in Gesetzesform gegossen. Hintergrund der „Vereinfachungen“ ist eine De-facto-Kürzung des sogenannten Regelsatzes der SGB-II-Leistungen, unter anderem dadurch, dass die Kosten der Unterkunft nicht mehr voll übernommen werden sollen und der Freibetrag für „Aufstocker“ gekürzt wird. Die Verschärfung des Asylbewerberleistungsgesetzes sieht die drastische Kürzung der Leistungen für Ausreisepflichtige, also auch Geduldete vor, wovon viele abgelehnte Asylbewerber betroffen sein werden. Durch die beschleunigte Ablehnung und Abschiebung wird die Zahl der Illegalisierten zunehmen. Die soziale Absicherung für EU-Bürger wurde bereits in den vergangenen Jahren ausgehöhlt. Welche Auswirkung hat die Verschlechterung der Rechte und der Lage dieser Teile der Arbeiterklasse?
Größe und Zusammensetzung der industriellen Reservearmee
Die industrielle Reservearmee umfasst aktuell rund 4,5 Millionen Erwerbsfähige. Wenn man die „Stille Reserve“, also die nicht als arbeitssuchend Registrierten, abzieht, sind es ca. 3,5 Millionen. Sie stehen 30 Millionen sozialversicherungspflichtig abhängig Beschäftigten gegenüber, wobei darunter sieben Millionen Teilzeitbeschäftigte sind. Das „Gewicht“ der industriellen
Reservearmee gegenüber den sozialversicherungspflichtig abhängig Beschäftigten liegt bei um die 11 Prozent, ein wesentlich höherer Wert als die offiziellen 6,4 Prozent Arbeitslosenquote. Der Großteil der Arbeitslosen und Arbeitsuchenden gehört zur „stockenden“ industriellen Reservearmee, die sehr unregelmäßiger Beschäftigung ausgesetzt ist. Dieser Teil hat durch die Agenda 2010, insbesondere durch Leiharbeit, befristete Beschäftigung, Teilzeit und Minijobs stark zugenommen und ist einer ständigen Rotation ausgesetzt – raus aus dem Job, rein in den Job.
Das Phänomen „Arm trotz Arbeit“ nimmt zu: Mehr als drei Millionen Erwerbstätige waren 2013 arm, 25 Prozent mehr als vor der Krise von 2008. Ein weiterer Teil der industriellen Reservearmee ist die Dauerarbeitslosigkeit. Von den offiziell 2,7 Millionen Arbeitslosen waren über eine Million ein Jahr und länger arbeitslos. Erwerbslose sind besonders stark von Armut und Entbehrung betroffen, laut Daten des Statistischen Bundesamtes kann sich mehr als ein Drittel beispielsweise keine regelmäßige vollwertige Mahlzeit leisten.
Obwohl die industrielle Reservearmee schon relativ groß ist, ist das Kapital bestrebt, ihren Umfang zu erweitern und ihre Zusammensetzung zu seinen Gunsten zu verändern. Dies gelingt durch Menschen, die vor Krieg und Elend fliehen und von Kapital und Staat nach Verwertungskriterien selektiert werden. Sie stehen unter hohem Existenzdruck und sind gezwungen, jede Arbeit sofort anzunehmen. Zudem sind viele von ihnen jung und ihre Arbeitskraft leicht und über die Maßen ausbeutbar.
Ansprüche niedrig halten
Karl Marx hat die Wirkung der industriellen Reservearmee auf die aktive Arbeiterarmee in den verschiedenen Phasen eines Zyklus (Krise, Depression, Belebung und Aufschwung) beschrieben: „Die industrielle Reservearmee drückt während der Perioden der Stagnation und mittleren Prosperität auf die aktive Arbeiterarmee und hält ihre Ansprüche während der Periode der Überproduktion und des Paroxysmus (gesteigerte Ausbrüche der Krise) im Zaum.“ (MEW, Band 23, S. 668) Das Kapital nutzt diese für die Arbeiterklasse schlechte Situation aus und treibt die Intensivierung der Arbeit voran. In diesem Jahr wird der Druck auf die Beschäftigten weiter zunehmen. Eine Umfrage unter 29 Arbeitgeber-Verbänden des Instituts der deutschen Wirtschaft kündigt an: „Mehr Produktion, gleich viel Jobs“ (so lautet auch der Titel der Studie). Es soll auch nicht unbedingt mehr in Maschinen investiert werden.
Die „Welt“ vom 27.12.15 schreibt Klartext: „Stattdessen läuft es in vielen Branchen schlichtweg auf eine Arbeitsverdichtung hinaus.“ Viele Beschäftigte leiden bereits jetzt unter den Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen und der Erhöhung der Belastungen. Die Überstunden nehmen zu und die Zahl der Krankheitstage steigt, insbesondere durch chronische Erkrankungen. Besonders betroffen sind gering Qualifizierte und Niedriglöhner, deren Lebenserwartung bereits jetzt zehn Jahre unter der von höheren Einkommen liegt.
Was bedeutet diese Ausgangslage für die Arbeiterklasse?
Die Arbeiterklasse ist vielfach gespalten und schlecht organisiert. Der gewerkschaftliche Organisierungsgrad lag 2013 bei lediglich 17,7 Prozent. Nur 9 Prozent der Betriebe und 41 Prozent der Beschäftigten haben einen Betriebsrat, wie aus der Datenkarte des WSI hervorgeht. Große Teile der Arbeiterklasse sind noch geringer organisiert, insbesondere die schlecht bezahlten und die industrielle Reservearmee.
Atomisierung und Isolierung beherrschen die Situation der Lohnabhängigen. Sie sind keine gemeinsame Kraft, die ihre eigene Lage erkennt und gemeinsam handelt. Die verschiedenen Teile der Arbeiterklasse benötigen eine Organisierung für ihre spezifische Lage, um für ihre Rechte und Interessen einzutreten. Dies gilt auch für andere Teile der Werktätigen, wie die kleinen Selbstständigen.
Die Selbstorganisierung der verschiedenen Teile der Arbeiterklasse ist aus zwei Gründen wichtig: Zum einen fordert ihre Lage spezifische Anforderungen der Organisation, zum Beispiel bezüglich der Rechtsgebiete und der Kampfformen. Zum anderen ist Selbstermächtigung wichtig, also die Möglichkeit selbst und gemeinsam mit anderen zu handeln. Es geht um die Überwindung der Kultur der Stellvertreter. Den Kampf für die eigenen Rechte erledigt kein Betriebsrat oder Gewerkschaftssekretär, auch wenn diese eine wichtige Rolle im Kampf spielen können und Teil davon sind.
Um die Einheit der Arbeiterklasse herzustellen muss sie praktisch zusammen kämpfen. Die gut organisierten Facharbeiter müssen erkennen, dass der Angriff auf die sozialen Rechte ein Angriff auf sie und nicht nur auf die Niedriglöhner, Erwerbslosen oder Geflüchteten ist. Und sie müssen dies auch praktisch umsetzen können, indem sie Teil des Kampfes für soziale Rechte sind. Ebenso wie die Erwerbslosen und Niedriglöhner den Kampf gegen Rentenkürzung oder die Einschränkung des Streikrechts als ihren verstehen müssen. Die verschiedenen Kampfformen können zusammen geführt werden. Wenn die „Stammbelegschaft“ einen Streikkampf gegen Leiharbeit führt, können die anderen Teile der Arbeiterklasse diesen Kampf unterstützen und mitführen – durch die Mobilisierung in Form von Demonstrationen, Aktionen in Jobcentern gegen die Vermittlung in Leiharbeit, etc.
Eigenständige Organisierung heißt sowohl unabhängig von bürgerlichem Einfluss, als auch eigenständig als Handelnde, als Aktive.
Rolle der Gewerkschaften, Rolle der Partei
Den Gewerkschaften kommt eine wichtige Rolle zu. Sie müssen zum einen gegen die Verschärfungen und Entrechtungen ankämpfen, zugleich müssen sie den Kampf zur Abschaffung des Kapitalismus lenken. Karl Marx sagte über die Gewerkschaften: „Sie verfehlen ihren Zweck gänzlich, sobald sie sich darauf beschränken, einen Kleinkrieg gegen die Wirkungen des bestehenden Systems zu führen, statt gleichzeitig zu versuchen, es zu ändern, statt ihre organisierten Kräfte zu gebrauchen als einen Hebel zur schließlichen Befreiung der Arbeiterklasse, das heißt zu endgültigen Abschaffung des Lohnsystems.“ (Lohn, Preis und Profit, MEW Band 16, S.152).
In den DGB-Gewerkschaften dominiert der sozialpartnerschaftliche Kurs, die Zusammenarbeit mit Kapital und Staat ist vorherrschend. Die Kritik des DGB an den Sozial- und Asylrechtsverschärfungen fällt bescheiden aus, eine Orientierung auf oder ein praktischer gemeinsamer Kampf ist nicht erkennbar, wenn auch der Mindestlohn verteidigt werden soll. Hier gilt es innerhalb der Betriebe und Gewerkschaften zu argumentieren, Kollegen für ihre Interessen konsequent zu organisieren, Mehrheiten zu verändern.
Die Schaffung von Klassenbewusstsein und damit auch Bewusstsein über die eigene Lage und die der gesamten Klasse, der Kampf für das Interesse der Gesamtbewegung der Arbeiterklasse ist Aufgabe der kommunistischen Partei: „Die Kommunisten unterscheiden sich von den übrigen proletarischen Parteien nur dadurch, daß sie einerseits in den verschiedenen nationalen Kämpfen der Proletarier die gemeinsamen, von der Nationalität unabhängigen Interessen des gesamten Proletariats hervorheben und zur Geltung bringen, andrerseits dadurch, daß sie in den verschiedenen Entwicklungsstufen, welche der Kampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie durchläuft, stets das Interesse der Gesamtbewegung vertreten.“ (Das Manifest der Kommunistischen Partei, in Karl Marx/Friedrich Engels – Werke. Dietz Verlag, Band 4, Seite 34)