Unterschiedliche Methoden der Formierung der Gesellschaft wahrnehmen

Geschlechterfrage beachten

Christel Buchinger, Medelheim

Für die gesamte Phase des Imperialismus den Begriff „Heimatfront“ zu benutzen, halte ich für etwas unglücklich, weil mit ihm unsichtbar gemacht wird, wie in unterschiedlichen Phasen unterschiedliche Methoden der Formierung der Gesellschaft mit den passenden ideologischen Konstruktionen entwickelt wurden. Als Beispiel soll der sogenannte Fordismus dienen, der die Arbeiterklasse (AK) für Jahrzehnte prägte und nachhaltig ins System integrierte. Antonio Gramsci hat sich mit dem Fordismus, den er Amerikanisierung nannte, was eigentlich der bessere Begriff wäre, eingehend beschäftigt.

Ausgangspunkt für den Fordismus waren keine ideologischen Fragen und auch nicht der unmittelbare Machterhalt, sondern die Entwicklung der Produktivkräfte und die darauf abgestellte Organisation der Arbeit. Die damit angestoßene Umwandlung der gesellschaftlichen Verhältnisse erwies sich für die Entwicklung des Imperialismus als sehr vorteilhaft und machte ihn über Jahre ausgesprochen stabil.

Ein zentrales Element war die Umwandlung der Geschlechterverhältnisse (GV). Die Installierung des Ernährermodells befreite die Frauen von schlechter, unterbezahlter Erwerbsarbeit. Sie brachte aber in den Kapitalismus ein vormodernes Geschlechterregime zurück und setzte die Frauen erneut in persönliche Abhängigkeit zu ihren Ehemännern, die in der Familie schalten und walten konnten wie der Kapitalist in der Fabrik. Die damit verbundene Aufwertung der proletarischen Männer machte dieses System bei ihnen äußerst beliebt. Auf Seiten der Frauen war die Freude nicht ungetrübt. Das neue Familienmodell verursachte neue und grundlegende Interessengegensätze innerhalb der AK, zwischen Männern und Frauen, die aber von den kommunistischen Parteien lange geleugnet wurden. Grund dafür mag auch gewesen sein, dass die Arbeiterparteien von Männern dominiert waren, die von diesen GV profitierten und ihre Rolle keinesfalls in Frage stellen wollten. Gewalt in den Familien, auch den eigenen und auch sexuelle Gewalt, blieben tabuisiert.

In den äußerst stabilen fordistischen Verhältnissen entstand – wunderbar dialektisch – eine Gegenbewegung all jener, die durch dieses Modell ihrer Freiheiten beraubt waren, vor allem der Frauen. Die Leugnung oder das Kleinreden der Interessenkonflikte führte zu einem problematischen Umgang mit der Frauenbewegung. Die „Bündnispolitik“ in diese Richtung nahm zuweilen bizarre Formen an. Frauenbewegung und Arbeiterbewegung blieben sich fremd.

Dramatische Folgen zeitigte dies in dem Moment, als die Monopolistenklasse daran ging, das fordistische System, das zur Fessel der PK geworden war, zu demontieren. Die GV, die bei Einführung des Fordismus zentral waren, wurden dies auch bei seiner Zerschlagung. Nach anfänglichem Fremdeln auch auf der Seite des Monopolkapitals begriff dieses aber bald, dass ein „Bündnis“ mit jenen geschlossen werden konnte, die ebenfalls den Fordismus als Fessel betrachteten. Die überholten GV konnten so als Ansatzpunkt dienen, um große Teile der AK, vor allem aber der anderen nichtmonopolistischen Klassen und Schichten für das neoliberale Projekt zu gewinnen. Diese waren vor allem Frauen. Die Europäische Union machte sich zur Vorkämpferin der Integration der Frauen in den Arbeitsmarkt, für gleichen Lohn für gleiche Arbeit, für ein Antidiskriminierungsgesetz (sie sagten nicht, dass sie die Angleichung nach unten im Auge hatten und dass das Ziel war, die Löhne zu senken, sodass ein Lohn für die Ernährung der Familie nicht mehr ausreichte). Die Vorwürfe gegenüber dem Feminismus, dass er sich von den Herrschenden kapern und zur neoliberalen Zurichtung der Gesellschaft nutzen ließ, zeigt, dass die Arbeiterbewegung, und hier interessiert vor allem die KP, die eigene Rolle und den eigenen Anteil an dieser Entwicklung weitgehend noch nicht begriffen hat.

Welche Lehren sind daraus zu ziehen? 1. Einheit Arbeiterklasse heißt auch, innerhalb derselben keine reaktionären persönlichen Abhängigkeitsverhältnisse zu dulden, Gewalt gegen Frauen nicht zu tolerieren, sich der Geschlechterfrage zu stellen. 2. Die Klassenverhältnisse in den GV einerseits und die GV in den Klassenverhältnissen müssen beachtet werden 3. Nicht-ökonomische Interessen, die gleichwohl grundlegend sind, nicht zu unterschätzen. Und 4. Widersprüche, nicht nur die Grundwidersprüche, zu beachten und zu nutzen.

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"Geschlechterfrage beachten", UZ vom 16. Oktober 2020



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