Vom Broadway zum Spielberg-Film: Die Westside Story

Geschichten von der Westside

Michael Kaplan, People’s World

Die brillante Originalaufnahme der Broadway-Besetzung des Columbia-Records-Produzenten Goddard Lieberson wurde nur wenige Tage nach der Eröffnung der West Side Story am Broadway im September 1957 aufgenommen und war meine erste Bekanntschaft mit Leonard Bernsteins Partitur für die aktualisierte Version von Shakespeares Romeo und Julia. Die Handlung spielt in den Straßen von New York, wo sich rivalisierende Banden um die Kontrolle über ihr Viertel duellieren und sich eine unglückliche Romanze zwischen Tony (einem gebürtigen New-Yorker europäischer Abstammung) und Maria (einer Neuankömmlingin aus Puerto Rico) entwickelt.

Aufgenommen im 30th Street Studio von Columbia spiegelt das Cast-Album die Widersprüche und Vorurteile wider, die in der Musik, dem Buch, den Texten und der Besetzung der Show angelegt sind. Zwei der beliebtesten Musiknummern wurden zum Beispiel schon früh in der Geschichte der Show überarbeitet. Laut Texter Stephen Sondheim wurde die allerletzte Zeile von „Gee, Officer Krupke“ in „Gee, Officer Krupke, krup you“ geändert, nachdem Lieberson davor gewarnt hatte, dass der ursprüngliche Text, der ein Schimpfwort mit vier Buchstaben enthielt (Fuck you, MD), zu rechtlichen Problemen führen könnte und nicht für eine Ausstrahlung im Radio geeignet wäre.

In der ursprünglichen Bühnenproduktion wurde der Song „America“ mit der Zeile „Puerto Rico, you ugly island, island of tropic diseases“ (Puerto Rico, du hässliche Insel, Insel der Tropenkrankheiten) eingeleitet, die den Wunsch einiger stereotyper Puertoricaner zum Ausdruck bringt, ihre Heimat zu verlassen und in ein Land zu ziehen, in dem das Leben angeblich hell, frei und wohlhabend ist. Als die Show 1961 für die Leinwand adaptiert wurde, änderte man die als erniedrigend empfundene Zeile in das weniger beleidigende „Puerto Rico, my heart’s devotion, Let it sink back in the ocean!“ (Puerto Rico, Hingabe meines Herzens, lass es wieder im Meer versinken!).

Eine weitere Kontroverse entstand durch die Besetzung der weiblichen Hauptrolle der Maria mit Natalie Wood. Sowohl sie als auch ihr Co-Star George Chakiris mussten geschminkt werden, um den angeblichen puertoricanischen Teint darzustellen. West Side Story war jedoch nicht der erste Hollywood-Film, der dieses „Blackfacing“ praktizierte. Rita Moreno – die Anita des Films von 1961 –, die 1936 von ihrer Mutter aus Puerto Rico auf das US-amerikanische Festland gebracht wurde, wies in Interviews darauf hin, dass ihre Haut in den ersten Jahren ihrer Filmkarriere für die „einheimischen“ Rollen, die sie an der Seite ihrer meist weißen Hauptdarsteller spielte, stets nachgedunkelt wurde.
Trotz dieser Mängel gewann der Film zehn Oscars, darunter für den besten Film, und ist damit der meistausgezeichnete Musicalfilm der Geschichte. Der Film wurde für 6,5 Millionen Dollar produziert und spielte weltweit 44,1 Millionen Dollar ein – das entspricht heute 382 Millionen Dollar. Im Vergleich dazu hat der Blockbuster „Black Panther“ 200 Millionen Dollar gekostet und weltweit über 1,3 Milliarden Dollar eingespielt, wobei die Einnahmen immer noch aus dem Verkauf von CDs und Streamingdiensten stammen.

Im Laufe der Jahre hat sich die West Side Story in Bezug auf die Besetzung, den Schauplatz und die Präsentation weiterentwickelt, um das Stück für das heutige Publikum relevant zu halten.
Die Wiederaufnahme am Broadway im Jahr 2020 verlegt die Handlung in das heutige New York. Die Inszenierung weist mehrere Neuerungen auf: den Einsatz von Tonverstärkern, einer 1957 noch nicht ausgereiften Technologie, die eine flexiblere Bewegung der Schauspieler ermöglicht, Videohintergründe, die das Bühnengeschehen in großem Maßstab zeigen, und die umfangreiche Besetzung mit Schauspielern und Tänzern, die Minderheiten angehören. Die neueste Bühnenfassung wurde von Ivo van Hove inszeniert und von Anne Teresa De Keersmaeker choreografiert, die beide aus Belgien stammen.

Die Wiederaufführung erhielt zwar allgemein positive Kritiken, aber die puertoricanische Schriftstellerin Carina del Valle Schorske hat in der New York Times einen kritischen Meinungsartikel veröffentlicht, in dem sie viele Prämissen des ursprünglichen Konzepts in Frage stellt. In ihrem bissigen letzten Absatz schreibt sie: „Vielleicht wollen wir unabhängig sein und in einer Tradition glänzen, die wir selbst verfasst haben. Ich möchte Anita zitieren, wenn ich der amerikanischen Unterhaltungsindustrie und ihren vielen gefangenen Zuschauern einen Rat gebe: Vergessen Sie diesen Jungen und finden Sie einen anderen.“

Die neue Verfilmung unter der Regie von Steven Spielberg, die 2019 in New York und New Jersey gedreht wurde, kam im Dezember 2021 in die Kinos und erntete sowohl begeisterte als auch kritische Kritiken. Ohne Details zu verraten, spielt das Stück visuell und thematisch immer noch im New York des Jahres 1957, aber Tony Kushners Drehbuch verwandelt ein historisches Stück – das oft als veraltet und irrelevant kritisiert wird – in eine Kritik an der unruhigen Welt von 2020. Das Schauspiel, der Gesang, der Tanz und die Orchesterbegleitung (unter der Leitung von Gustavo Dudamel) sind allesamt erstklassig.

Wenn Sie ins Kino gehen und bis zum Abspann sitzen bleiben, sind Sie wahrscheinlich allein im Kino – es sei denn, Sie sind in Los Angeles, wo fast jeder in irgendeiner Weise mit der Filmindustrie verbunden ist. Hunderte von Namen tauchen in den Credits auf, viele davon sind dem Publikum bekannt, und einige rufen sogar Applaus hervor. Nach Angaben der Motion Picture Association of America bietet die US-amerikanische Film- und Fernsehindustrie 2,6 Millionen Arbeitsplätze, umfasst über 93.000 Unternehmen und zahlt insgesamt 177 Milliarden Dollar an Löhnen und Gehältern. Diese Vielzahl von Menschen wird von etwa 40 Gewerkschaften, Innungen, Verbänden, Allianzen und Gesellschaften vertreten, die die Löhne, Arbeitsbedingungen und Leistungen derjenigen schützen, deren Talent und Fähigkeiten eine oft brutale und wettbewerbsintensive Branche ermöglichen.

Der zehnminütige Abspann des neuen Films, der von Spielberg und dem Produktionsdesigner Adam Stockhausen gestaltet wurde, ist mit einer gekürzten Version von Bernsteins Symphonischen Tänzen aus West Side Story unterlegt. Wenn man die Geduld hat, bis zum Ende auszuharren, findet man auf dem letzten Bildschirm eine überraschende Bestätigung des sozialen Werts des Projekts: „Dieser Film hat 15.000 Arbeitsplätze geschaffen.“ Die Schönheit des Werks, sein sozialer Kommentar und die Schaffung von Arbeitsplätzen in einer schwächelnden Wirtschaft rechtfertigen die Kosten des Films in Höhe von 100 Millionen Dollar, eine Summe, die man leicht in die Waffenproduktion oder in Ölbohrungen hätte stecken können, mit weitaus geringerer gesellschaftlicher Rentabilität.

Aus Neugier, Nostalgie und Respekt vor Sondheim, der im November im Alter von 91 Jahren verstorben ist, habe ich mir das Besetzungsalbum von 1957 noch einmal angehört. Die West Side Story hat sich im Laufe der Jahre verändert, wie es bei jedem Theaterstück der Fall sein sollte, aber nichts, was ich bisher gehört oder gesehen habe – einschließlich des Spielberg-Films –, erreicht die Brillanz und emotionale Intensität der erstaunlichen Aufführung einer der größten musikalischen Schöpfungen des zwanzigsten Jahrhunderts durch die Originalbesetzung am Broadway.

Übersetzt und redaktionell bearbeitet von Melina Deymann

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"Geschichten von der Westside", UZ vom 21. Januar 2022



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