Zum Umgang mit dem Maler und Grafiker Willi Sitte

Gescheiterter Künstler?

Martina Dost

Seit dem 3. Oktober ist die über fünf Jahre vorbereitete Retrospektive „Sittes Welt“ mit 250 Werken und persönlichen Dokumenten des Künstlers im Kunstmuseum Moritzburg Halle zu sehen. Andere „staatsnahe“ Maler bekamen nach der Konterrevolution Ausstellungen im erweiterten Deutschland, Sitte nicht. Er gab seinen Nationalpreis nicht zurück wie Tübke und Heisig, schwor dem Sozialismus nicht ab.

Um den 100. Geburtstag Sittes herum würdigten ihn verschiedene Medien, unter anderem im Film des MDR „Zwischen Barock und Staatsmacht“, vor allem als Künstler mit herausragendem Talent, bei dem Malerei und Grafik gleichwertig bestehen konnten, der die menschliche Figur aus dem Effeff mit allen Verkürzungen, in allen Posen beherrschte. Dass Sitte viele Arbeiter und andere Werktätige in Akten, Porträts und Gruppenbildnissen darstellte, entspricht der Funktion der Kunst im Sozialismus.

Seit der Moritzburger Ausstellungseröffnung bekommt Sitte jedoch Gegenwind, denn er ist ein Symbol für die Kunst der DDR und die DDR selbst. Nun wird gesucht, vermeintlich gefunden, gelogen und gehetzt.

Sitte wurde in einem kommunistischen Elternhaus in Böhmen geboren, war als Wehrmachtssoldat an der Ostfront, später in Italien, wo er zu den Partisanen überlief, ein Reizthema für die bürgerliche Presse. In der Kunstzeitschrift „art“ arbeitet sich ein Antikommunist am Kommunisten Sitte ab: In Italien „begann seine Selbstmystifizierung als sozialistischer Held, die nach Forschungen von Thomas Bauer-Friedrich (Direktor des Kunstmuseums Moritzburg Halle) … jeder faktischen Grundlage entbehrt … er erfindet immer groteskere Erzählungen, um seinen Nimbus als kämpfender Antifaschist im Dritten Reich zu wahren, denn … dieser garantierte handfeste materielle Vorteile im Arbeiterstaat“.

Dagegen beschrieb das „Neue Deutschland“ bereits am 13. November 2008 ein Dokument, datiert auf den 18. Mai 1945, in dem der Bürgermeister von Montecchio Maggiore, Giovanni Giuliari, und der Präsident des Nationalen Befreiungskomitees, Giuseppe Muraro. mit ihrer Unterschrift bestätigen, dass „ein gewisser Vilem Sitte, erst Soldat, später Deserteur der 90. Motorisierten Infanteriedivision, der antifaschistischen Befreiungsbewegung zur Seite gestanden hatte, indem er sie mit Waffen und Informationen versorgt sowie gefangene Partisanen unterstützt“ habe. Die Gemeinde verlieh ihm 2008 die Ehrenbürgerschaft.

Nach einem Jahr in Mailand ließ sich Sitte in Halle in der Sowjetischen Besatzungszone nieder. Als der Maler und Grafiker Hans Grundig ihm bescheinigte, ihm nichts mehr beibringen zu können, studierte Sitte autodidaktisch die Kunst von der Antike über Renaissance, Barock bis zur Moderne von Picasso, Léger, Malewitsch und Mondrian, um dahinterzukommen, „wie die das machten“.
Er war von Picassos Reaktion auf den Spanischen Bürgerkrieg fasziniert, „wie seine Formensprache sich im Ringen mit diesem Thema entwickelte, bis sie es unvergleichbar und unauslöschlich formulieren konnte – und für eine breite Öffentlichkeit –, das war mir ein überragendes Vorbild“. Sitte wählte unter anderem die Themen Lidice und Stalingrad, um seine Auseinandersetzung mit dem Faschismus zu führen; für „Höllensturz in Vietnam“ fand er die Bildidee in der Alten Pinakothek München vor Rubens „Höllensturz“. Wegen seiner Formensprache war Sitte etwa 20 Jahre lang immer wieder der Kritik von Kulturfunktionären der DDR ausgesetzt, die Formalismusdebatte brachte ihn an psychische Grenzen. Parallel jedoch bekam er Aufstiegschancen und Ehrungen. Von 1951 bis zur Emeritierung 1986 lehrte er an der Kunsthochschule Halle, war Mitglied der Volkskammer, des ZK der SED und Vorsitzender des Verbandes Bildender Künstler der DDR.

„art“ bezichtigt Sitte, er habe „einen vollständigen Kotau vor der Partei“ gemacht und habe „blanke Heldenverehrung im Sinne der politischen Kunst-Doktrin etwa mit ‚Karl Liebknecht kommt aus dem Gefängnis‘ geschaffen“ und „huldigte Parteirhetorik in platten Historienbildern“.

Sitte selbst äußerte sich 1982 in einem Interview mit Sabine Weißler: „Die Debatte um Formalismus und Realismus hatte einen bedeutenden historischen Sinn, wie wir heute wissen. Schließlich war das, was man unter Formalismus verstand, auf der anderen Seite der Barrikade zu einer politischen Doktrin, zu einem Kampfmittel gegen demokratisch und sozialistisch engagierte Kunst gemacht worden. Abstrakte Kunst wurde schließlich zum Hauptkennzeichen von Freiheit nach westlichen Maßstäben hochstilisiert.“ Der Stil der Debatte erschütterte seine politische Haltung gegenüber dem Arbeiter-und-Bauern-Staat keineswegs. „Die Auseinandersetzung, die wir durchgestanden haben, hat zwar Narben hinterlassen, aber in bestimmter Hinsicht war die Reibung, der wir ausgesetzt waren, nicht ganz unproduktiv für die künstlerische Arbeit und für das Zu-sich-selbst-Finden.“

Ein Beitrag zu Willi Sitte im „Deutschlandfunk“ vom 30. September diesen Jahres endet mit der Feststellung: „Dass er als Künstler gescheitert ist, darüber sind sich eigentlich alle einig.“ Alle? Dann gäbe es die Retrospektive nicht, hingen Sittes Werke nicht im Barbarini-Museum Potsdam, nicht im Kunstarchiv Beeskow, wäre 2006 nicht die Sitte-Stiftung Merseburg gegründet worden, die in diesem Jahr wegen „Geldmangels“ aufgelöst wurde, hätten Kunstwissenschaftler wie Peter Michel ihn nicht immer wieder ­gewürdigt.

Der langjähriger Direktor der Staatlichen Kunsthalle Berlin (West), Dieter Ruckhaberle, sieht in Sitte einen der wichtigsten Künstler der DDR und Teil der internationalen Kultur, „der, wenn es um den Frieden und die Sache der Unterdrückten geht, … sich in Inhalt und Form in den europäischen und internationalen Dialog“ mischt.

Sitte machte sich die Haltung Picassos zu eigen, dass Malerei nicht geschaffen ist, Wohnungen auszuschmücken, sondern als Waffe gegen den Feind.

Sittes Welt
Willi Sitte: Die Retrospektive
Kunstmuseum Moritzburg Halle bis 9. Januar 2022
Eintritt 12 Euro/ermäßigt 9 Euro

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"Gescheiterter Künstler?", UZ vom 12. November 2021



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