Frank-Walter Steinmeier bemühte sich, die Kehrtwende nicht als eine solche erscheinen zu lassen. Sein Vorgänger im Amt, der politisierende Kriegspfarrer in Schloss Bellevue, dem nicht schnell genug für den Profit gestorben werden konnte, brauchte klare Feindbilder. Eine Visite beim Ultrabösewicht im Kreml war außerhalb der Diskussion. Steinmeier beendete den siebenjährigen, kläglich gescheiterten Blockadeversuch. In der letzten Woche besuchte er Moskau.
Die Visite wurde offiziell heruntergespielt, es handele sich um einen reinen „Arbeitsbesuch“. „Ich gehe ohne Illusionen in dieses Gespräch“, bediente der Bundespräsident die russophobe Stimmung der deutschen „Qualitätsmedien“. Er wolle sich auch mit Michael Gorbatschow und der Soros-finanzierten „Menschenrechtsorganisation“ Memorial treffen. Der Besuch bei westlichen Einflussagenten gilt Menschenrechts-Interventionisten von Grün bis Schwarz als Ausweis, das Wohl der Unterdrückten dieser Erde nicht schnöden ökonomischen Erwägungen opfern zu wollen. „Unterdrückt“ in diesem Sinne ist allerdings ein recht exklusiver Zirkel. Hungernde Flüchtlinge aus Afrika, beispielsweise, erfreuen sich weder der anteilnehmenden Aufmerksamkeit des Herrn Soros noch der des deutschen Bundespräsidenten.
Aber natürlich waren es gerade diese ökonomischen Interessen, die Steinmeier gen Moskau reisen ließen. Seit Beginn der offenen Konfrontationspolitik des Westens gegen Russland vor etwa zehn Jahren ist die Welt eine andere geworden. 2007 hatte Wladimir Putin auf der Münchener Sicherheitskonferenz das Streben der USA zu einer „monopolaren Weltordnung“ kritisiert und war durch fortgesetzte Unbotmäßigkeit zum bestgehassten Oberschurken aufgestiegen. Nachdem der Kreml, unter dem Eindruck des westlich finanzierten und orchestrierten Putsches in der Ukraine, auf der Krim die Notbremse zog, suchten sich die bundesdeutschen Medien und Blockparteien mit Putin-Bashing und Sanktionsforderungen zu überbieten. Die „Strafmaßnahmen“ würden Russlands Wirtschaft in den nächsten drei Jahren „mindestens 200 Mrd. Dollar kosten“ jubelte die Tagesschau im August 2014.
Es ist für die deutschen Gernegroße, die gewohnt sind, schwächere Länder in der EU nach Belieben herumschubsen zu können, bitter, aber Moskau ist nicht in die Knie gegangen, weder politisch noch ökonomisch. Im Gegenteil, nach einer Phase ernsthafter Schwierigkeiten in den Jahren 2015 und 2016 durch massiv sinkende Ölpreise und wegfallende Lieferketten, die der russische Präsident mit einem Verlust von etwa 50 Mrd. US-Dollar bezifferte, rechnet die russische Zentralbank für 2017 mit einem BIP-Plus von 2 Prozent. In den ersten acht Monaten 2017 ist der Industrieoutput um 1,9 Prozent gestiegen. Statt der erhofften außen- und wirtschaftspolitischen Isolierung und innenpolitischen Destabilisierung gibt es heute einen in jeder Hinsicht gestärkten Wladimir Putin, der eine hochkarätige Delegation nach der anderen empfängt. Chinesische Unternehmen planen Großinvestitionen in Russland. Russland spielt in Xi Jinpings Projekt einer Neuen Seidenstraße eine zentrale Rolle. Kürzlich reisten selbst die Sauds mit einer 1000-köpfigen Delegation nach Moskau. Russland ist strategisch, in Bezug auf seine Lage und Größe, seine Ressourcen, sein Pipeline-Netz und seine Kaufkraft viel zu wichtig, als dass es dauerhaft ignoriert werden könnte.
Laut Ost-Ausschuss der deutschen Wirtschaft (OA) sind die deutschen Russland-Exporte durch die Sanktionen um 42 Prozent eingebrochen. Die aggressive Kraftmeierei hat 60 000 Arbeitsplätze gekostet. „Die Gesamtlasten der Wirtschaftssanktionen für die EU, Russland und die benachbarten Länder haben nach drei Jahren mindestens einen hohen zweistelligen, wenn nicht bereits einen dreistelligen Milliarden-Euro-Betrag erreicht“, rechnet, laut „Wirtschaftswoche“, eine Studie des OA vor. Unter dem Druck Berlins und Washingtons beteiligen sich etwa 40 Länder an den Wirtschaftssanktionen gegen Russland. Aber dort hat man Alternativen. Die Global-Player China, Indien, Brasilien, Südafrika oder Südkorea, aber auch die nahöstlichen Wirtschaftsmächte Türkei, Ägypten und Israel sind offensichtlich nicht bereit, sich auf Geheiß Washingtons und Berlins ins eigene Fleisch zu schneiden.
Während in Berlin noch die Forderung nach schärferen und längeren Sanktionen kursierte, haben die deutschen Exporte nach Russland in aller Stille wieder zweistellige Zuwachsraten erreicht. Der Ostausschuss hofft für 2017 auf ein Plus von 20 Prozent. Horst Seehofer reiste im März mit seinem halben Kabinett und einer großen Wirtschaftsdelegation in die russische Metropole. Außenminister Gabriel ist hier gleich mehrfach aufgeschlagen. Vor allem die in Verruf geratene deutsche Automobilindustrie hofft auf gute Geschäfte. Zumal die Konjunkturaussichten im zehnten Krisenjahr alles andere als rosig sind. Wachstumsmärkte sind rar. Um „America“ wieder „great again“, also zur erhofften Export-Boomtown machen zu können, dürfte Donald Trump schlicht das Geld fehlen. Daher herrscht in der Russlandpolitik für die deutsche Wirtschaft ganz offenkundig Handlungsbedarf. Die chinesischen Konzerne haben während der Sanktionen ihre deutsche Konkurrenz auf diesem Markt deutlich distanziert. Sie stehen für etwa ein Fünftel der russischen Einfuhren, während die Deutschen es gerade auf 10 Prozent bringen. Und Frank-Walter Steinmeier sagt Sätze wie: Berlin und Moskau müssten der „in den letzten Jahren gewachsenen Entfremdung etwas entgegensetzen“.
Das Scheitern des von CIA und Golfstaaten gesponserten Regime-Change in Syrien sowie der seit 16 Jahren erfolglose US-Krieg in Afghanistan haben die Karten im Großraum „Greater Middle East“ neu gemischt. Russland ist wieder ein einflussreicher Spieler auf diesem eminent wichtigen Spielfeld. Die ambitionierte deutsch-europäische Geopolitik in spe kann sich die Gauckschen Borniertheiten nicht länger leisten.