Zivile Rettungsschiffe sind für die sogenannte Küstenwache Libyens schon seit Längerem ein Ziel. Auch dann, wenn sie sich außerhalb der libyschen Hoheitsgewässer befinden, wie es bei der „Golfo Azzurro“, einem Schiff der spanischen Hilfsorganisation „Proactiva Open Arms“, am 15. August der Fall war. Die libysche Einheitsregierung in Tripolis hatte zuvor – ohne Absprache mit den Nachbarländern und auch damit gegen internationales Recht – die „Sicherheits- und Rettungszone“ willkürlich auf 74 Seemeilen ausgeweitet. Den Schiffen der NGOs wurde verboten in diese Zone einzufahren, um Menschen aus Seenot zu retten. Auch das verletzt alle internationalen Abkommen zur Seenotrettung. Die „Golfo Azzurro“ wurde beschlagnahmt, die Besatzung bedroht. Das Schiff wurde erst nach zwei Stunden wieder freigegeben.
Die einzige Reaktion der Bundesregierung auf die Maßnahmen der libyschen Einheitsregierung zur Ausweitung der „Sicherheits- und Rettungszone“ war bislang eine vorsichtige Mahnung: Internationales Recht müsse eingehalten werden. Kein Wunder, denn die Rechnung scheint aufzugehen: Die Zahl der Flüchtlinge, die in Italien anlanden, ist schon im Juli dramatisch gesunken. Und genau das will die EU: Flüchtlinge stoppen, bevor sie europäischen Boden betreten.
Libyen hat in diesem Zusammenhang die Rolle zu erfüllen, den Flüchtlingsbooten auf einer wichtigen Route den Weg über das Mittelmeer zu versperren und soll auch die Südgrenze des Landes dichtmachen. Nach Schätzungen der Bundesregierung sitzen derzeit eine Million Flüchtlinge und Migranten aus Afrika in Libyen fest.
Die EU bildet seit Oktober des vergangenen Jahres libysche Küstenschützer und Marinesoldaten aus, stellt Geld zur Verfügung. Wie im Juli bekannt wurde, plant Italien im Auftrag der EU weitere 255 „Küstenschützer“ zu schulen, Spanien bis zu 36. Italien stellt zudem Schiffe zur Verfügung und schickt zur „Unterstützung“ der libyschen Küstenwache Marineeinheiten.
Geld für den Küstenschutz kommt übrigens auch aus der Schweiz. Wie der Schweizer „Blick“ am 20. August berichtete, überwies das Staatssekretariat für Migration eine Million Franken an die Internationale Organisation für Migration, die das Geld dazu nutzt, libysche Küstenwächter auszubilden und mit Material „zur Flüchtlingsabwehr“ auszustatten: Schwimmwesten, Taschenlampen, Erste-Hilfe-Sets.
Doch an wen geht das Geld, wer wird da ausgebildet? Es gibt offensichtlich gar keinen einheitlichen libyschen Küstenschutz, der unter der Kontrolle irgendeiner Regierung steht. Seit der NATO-Aggression und dem folgenden Sturz Gadaffis im Jahr 2011 streiten rivalisierende Milizen und ihre Warlords um die Vorherrschaft. Der Bürgerkrieg ist bis heute nicht beendet. Ende März 2016 nahm die international anerkannte Einheitsregierung unter Fayiz as-Sarradsch in Tripolis ihre Arbeit auf, ist aber kaum handlungsfähig.
Im Land agieren zudem neben General Heftar Milizen unter Chalifa al-Ghweil und der Terrororganisationen IS sowie Al-Kaida. Offenbar verdienen all diese widerstreitenden Kräfte an den Flüchtlingen: Durch Schlepperdienste, Erpressung, deren Zwangsarbeit – und eben durch Geld der EU. Für viele Milizen ist dabei nicht nur der Menschenschmuggel durch die Sahara ein lukratives Geschäft.
Der Journalist Michael Obert, der das Land vor einiger Zeit bereiste, machte im Magazin der „Süddeutschen Zeitung“ und im Fernsehen auf die Situation aufmerksam: In der libyschen Küstenwache der Übergangsregierung, die mit Hilfe der EU zum „Türsteher der Festung Europa aufgebaut“ wird, obwohl die Verhältnisse völlig unkontrollierbar sind, sind auch Warlords unterwegs, die offenbar nur Boote jener Schlepper aufgreifen, die ihnen kein Geld zahlen. Er berichtete auch über die schrecklichen Verhältnisse in den libyschen Flüchtlingslagern.
Vor allem Frankreich und Italien haben im Zusammenhang mit Libyen offenbar ganz eigene ökonomische wie geopolitische Interessen, nicht nur im Hinblick auf den Ölreichtum des Landes.