Mit dieser Ankündigung gelang Venezuelas Präsident Nicolás Maduro am 1. Mai tatsächlich eine Überraschung: Eine Verfassunggebende Versammlung (Constituyente) solle den Raum für einen Dialog öffnen, um den Frieden in dem südamerikanischen Land zu bewahren. Im Unterschied zu früheren derartigen Veranstaltungen solle es sich bei der Constituyente jedoch nicht um eine der Parteien und Eliten handeln. Vielmehr sollten in der Versammlung die verschiedenen sozialen Gruppen Venezuelas vertreten sein: Arbeiter, Unternehmer, Rentner, Indígenas und andere Gruppen sollten direkt ihre Vertreter bestimmen.
Die Reaktion ließ nicht lange auf sich warten. Kaum war die Kundgebung beendet, auf der Maduro seinen Vorschlag verkündet hatte, da wetterten die Sprecher der Opposition bereits dagegen. Die Regierung wolle sich durch eine handverlesene Constituyente eine neue Verfassung schreiben, die ihre „Diktatur“ legitimieren solle. Diejenigen, die seit fast zwei Jahrzehnten die geltende Verfassung der Bolivarischen Republik attackiert hatten, spielen sich nun als deren Verteidiger auf.
In Venezuela wird seither die Frage der Constituyente diskutiert. Wobei das Interesse in der einfachen Bevölkerung eher begrenzt ist. Für sie ist wichtiger, was Maduro in der gleichen Rede angekündigt hat, nämlich die Preise einfrieren zu wollen. Die galoppierende Inflation ist eines der gegenwärtigen Hauptprobleme für die Bevölkerung, denn sie bedeutet eine immer geringer werdende Kaufkraft. Daran ändern auch die regelmäßigen Lohnerhöhungen von 50 oder mehr Prozent nichts. Die Menschen erwarten von der Regierung, dass sie die drängenden Probleme in den Griff zu bekommt: Inflation, Warenknappheit, Ineffizienz, Bürokratismus der Behörden und die hohe Kriminalitätsrate. In Umfragen spricht sich immer wieder eine Mehrheit der Bevölkerung dafür aus, dass die gewählte Regierung sich um die Lösung der Probleme kümmern solle – einen Wechsel an der Staatsspitze hält nur eine Minderheit für vorrangig.
Doch Maduro wird an spürbaren Ergebnissen gemessen – und gerade die will die Opposition verhindern. Die Großdemonstrationen, mit denen die Regierungsgegner immer wieder gegen bestimmte Maßnahmen des Kabinetts oder gegen Gerichtsurteile protestierten, sind inzwischen weitgehend von Barrikadenkämpfen abgelöst worden. Nahezu jeden Abend liefern sich vermummte und professionell ausgerüstete Militante in Teilen von Caracas und einigen anderen Städten Straßenschlachten mit den Sicherheitskräften. Deren Vorgehen wird in den internationalen Medien dann als brutale Repression des Maduro-Regimes gegen „friedliche Demonstranten“ angeprangert.
Nach Einschätzung vieler Beobachter haben die Führer der rechten Oppositionsparteien inzwischen die Kontrolle über die Straßenkämpfer verloren. Diese werden zwar von manchen Bürgern als „Helden“ gefeiert – und die Sprecher des Oppositionsbündnisses MUD distanzieren sich nicht von der Gewalt –, doch die Kampfgruppen haben inzwischen eine eigene Agenda. Sie interessieren sich nicht für Wahlen, von denen die offizielle Opposition ununterbrochen redet. Ihr Interesse ist, so viel Chaos zu provozieren, dass dies den USA als Vorwand für eine militärische Intervention dienen kann.
Am vergangenen Sonntag zitierte die in Caracas erscheinende unabhängige Tageszeitung „Ultimas Noticias“ aus einem Bericht des Southern Command der US-Armee, wonach Pentagon und MUD eine „gemeinsame Agenda“ ausgearbeitet hätten. Ganz offen wird davon geredet, dass die Parteien ihre Mehrheit in der Nationalversammlung dazu nutzen sollten, die Arbeit der Regierung zu blockieren. Gleichzeitig sollen auf der Straße „beschränkte bewaffnete Operationen“ durchgeführt werden, um das Land zu destabilisieren.
Eine klare Mehrheit der Oppositionsanhänger spricht sich nach wie vor gegen Gewalt und gegen jede ausländische Einmischung aus. Bei alltäglichen Gesprächen in den überfüllten Bussen ist man sich quer durch alle Lager einig: „Bomben unterscheiden nicht zwischen Chavistas und Oppositionellen“.
Wie schon in den vergangenen Jahren beschränken sich die Protestaktionen und Straßenblockaden bislang weitgehend auf die Mittelschichtsviertel im Osten der Hauptstadt. Nach der räumlichen Ausdehnung sind sie sogar weniger verbreitet als etwa 2014, als „Guarimbas“, wie die militanten Straßenblockaden in Venezuela genannt werden, monatelang das öffentliche Leben in den östlichen Vierteln von Caracas blockierten. Doch die Gewaltbereitschaft der Straßenkämpfer kennt keine Grenzen mehr. Auch Regierungsvertreter räumen inzwischen ein, dass offenkundig paramilitärisch ausgebildete und trainierte Kämpfer am Werk sind. Ihr Ziel ist ein Bürgerkrieg in Venezuela – und die internationale Macht der Medienkonzerne liefert mal wieder das Begleitkonzert dazu.