Der „Goldstone-Bericht“ wurde im April 2009 von den Vereinten Nationen in Auftrag gegeben, um das Geschehen im Krieg um Gaza zwischen Dezember 2008 und Januar 2009 aufzuklären. Eine der Schlussfolgerungen des Berichts: Der Krieg damals war „wenigstens in Teilen gegen die Bevölkerung von Gaza insgesamt“ gerichtet. Der Angriff des israelischen Militärs sollte, so der Bericht, „die Bevölkerung erniedrigen und terrorisieren“.
Dies ist Folge einer öffentlich bekannten und diskutierten Militärdoktrin Israels: der „Dahiya-Doktrin“. Sie wurde vom früheren Generalstabschef Gadi Eizenkot entwickelt und zielt im Kriegsfall auf die völlige Zerstörung der zivilen Infrastruktur des Gegners ab – und soll überdies gerade nicht eine „angemessene militärische Antwort“ auf einen Angriff geben, sondern von vornherein eine bewusst übermäßige Reaktion, eine massive Zerstörung und Bestrafung. Das Ziel ist Abschreckung.
Wenn aber – wie am 7. Oktober – die Abschreckung nicht mehr wirkt: Dann muss sie wiederhergestellt werden, in einem wahren Amoklauf von Tod und Zerstörung. Das ist es, was die Menschen in Gaza erleiden.
Der Zusammenbruch der Abschreckung kam für das israelische Militär vor Ort völlig überraschend. An Dutzenden Stellen durchbrachen die Kämpfer der Hamas und ihrer Verbündeten die Mauer um Gaza, besetzten Militäreinrichtungen und Kibbuzim. Zivilisten aus Gaza strömten durch die Breschen in der Mauer heraus aus ihrem Gefängnis.
Als die ersten Militärhubschrauber ankamen, schossen ihre Besatzungen in Panik buchstäblich auf alles, was sich bewegte.
Das israelische Portal „Ynet“ berichtete – offenbar in Absprache mit dem Militär –, dass in vier Stunden 300 Ziele angegriffen wurden. Insgesamt feuerten 28 Hubschrauber ihre gesamte Munition ab. Und erst mit der Zeit bemerkten die Besatzungen laut „Ynet“, dass es in den Siedlungen schwierig war zu unterscheiden, wer ein Kämpfer, wer ein Soldat und wer ein Zivilist war. Angeblich hatten die Kämpfer der Hamas die Anweisung, „nicht zu rennen“, um nicht als Ziele identifiziert zu werden.
Wie viele israelische Zivilisten kamen im „Friendly Fire“ aus den Hubschraubern um oder im Feuer der israelischen Soldaten, die die Siedlungen zurückeroberten? Diese Frage wird wohl nie beantwortet werden. Für die israelische Regierung um Benjamin Netanjahu waren hohe Opferzahlen willkommener Anlass für eine noch übermäßigere Reaktion, wie wir sie jetzt im Gazastreifen sehen.
Und nicht nur in Gaza. Heftige Kämpfe toben in vielen Orten der Westbank, wo Armee und Grenzschutz der Besatzungsmacht immer wieder mit gepanzerten Fahrzeugen in Städte wie Tulkarm, Dschenin, Nablus und andere vordringen. Es sind Bilder des Schreckens. Vom 7. Oktober bis zum 7. November wurden von Siedlern mehrere Hundert Familien vertrieben und Hunderte Bäume gefällt. Armee und Polizei töteten 163 Palästinenser, verletzten 2.200 und verhafteten 2.300. Bomben und Raketen schlugen vornehmlich in Dschenin ein, Drohnen sind allgegenwärtig.
Als Netanjahu vor der Vollversammlung der UN im September ein Bild des „Neuen Nahen Ostens“ zeigte, war es in Wirklichkeit Israel „From the River to the Sea“. Und das versucht das israelische Militär heute zu verwirklichen.
Abschreckung ist das Kernelement der israelischen Stabilität. Doch Abschreckung ist keine Einbahnstraße mehr. Die Hisbollah versteht es sehr gut, den wahren Umfang ihrer militärischen Möglichkeiten verdeckt zu halten. Noch funktioniert die gegenseitige Abschreckung an der Grenze zwischen Libanon und Israel. Aber mit jedem Tag, den der Krieg weiter andauert, wird die Gefahr einer Ausweitung in der Region größer.