UZ: In der Vorbereitung der Tarifrunde hat die EVG intensiv nach den Erwartungen ihrer Mitglieder geforscht und diese dann mit ihrer Tarifforderung formuliert. Unterschiedlichen Interessen wurde in dem Abschluss Rechnung getragen, nun können Bahnbeschäftigte zwischen Lohnerhöhungen, zusätzlichen Urlaubstagen oder Verkürzung der Wochenarbeitszeit um eine Stunde wählen.
Wie bewertest du die grundsätzliche Herangehensweise an eine Tarifauseinandersetzung?
Rainer Perschewski: Ich bin von der Herangehensweise in dieser Tarifrunde echt angetan. Schon im Vorwege gab es bundesweit verschiedene Workshops in dem sich über wichtige Detailforderungen beispielsweise zu den Auswirkungen der Digitalisierung ausgetauscht wurde. Im nächsten Schritt wurden Tarifdialoge durchgeführt. In Berlin haben wir auch über den Betriebsgruppenausschuss und einer zusätzlichen Veranstaltung mit Vertretern aus den gut 50 Betrieben diskutiert. Ich selbst habe eine Veranstaltung mit 180 Teilnehmern auf dem Leipziger Hauptbahnhof moderiert. Schließlich haben sich über 15 000 Mitglieder online und schriftlich an einer Umfrage beteiligt. Wichtig war aber, dass wir von Anbeginn an (betriebs-) öffentlich die Streikvorbereitung betrieben haben und so den entsprechenden Druck entfalteten konnten. Ich habe in den letzten 30 Jahren schon einige Tarifrunden mitgemacht, aber diese hat mich echt begeistert, da wir die meisten Forderungen durchsetzen konnten.
Anne Rieger: Zweifellos eine gute Herangehensweise. Meine Kritik richtet sich einzig gegen das Wahlmodell Arbeitszeitverkürzung statt Lohnerhöhung, denn entscheide ich mich für die Arbeitszeitverkürzung erhalte ich die Lohnerhöhung von 2,6 Prozent nicht, die meinen Kollegen ausgezahlt wird. Natürlich müssen Gewerkschaftsmitglieder ihre Forderung und Kampfstrategie gemeinsam entwickeln. Beschäftigte haben unterschiedliche persönliche Bedürfnisse. Aber ihre Interessenlage ist die Gleiche: Von der selbst erarbeiteten Produktivitätssteigerung einen möglichst großen Teil zu erkämpfen.
Die Schwierigkeit, die sich stellt, ist, wie der erkämpfte Anteil unter den Beschäftigten solidarisch und die zukünftige Strategie und Kampfkraft stärkend, verteilt werden soll. Bei der EVG haben sich die Mitglieder dafür entschieden, denen, die es wollen, für 2018 alles in Entgelt zu geben, denen die AZV wollen, alles in AZV. Natürlich akzeptiere ich dieses Kampfergebnis. Aber die Folgen müssen diskutiert werden.
Als Marxistin kritisiere ich das Wahlmodell – ein freundlich klingendes Wort – als zweischneidiges Schwert, weil es erstens dazu führt, dass sich Teile der Belegschaft ihre Arbeitszeitverkürzung selber bezahlen. Zweitens machen es individuelle AZV-Lösungen einem gut gemanagten Unternehmen leichter als kollektive, den Personalausgleich durch weitere Produktivitätssteigerungen zu umgehen. Unter Umständen können sie sogar einen teil-ökonomischen Vorteil aus dem Modell ziehen, wenn sie es als Flexibilisierungsinstrument für die Personaleinsatzplanung nutzen.
Drittens führt das Modell zu gespaltenen Belegschaften: Zukünftig gibt es tariflich vereinbart zwei Lohntabellen, eine „Basistabelle“ und eine „Tabelle zusätzlicher Erholungsurlaub“ mit einem Unterschied von 2,6 Prozent der dauerhaft bleibt, sowie zwei Arbeitszeitlängen, 38 und 39 Stunden. Die so unterschiedlich normierte Situation wird es den Arbeitgebern erleichtern, Forderungen der Belegschaft gegeneinander auszuspielen und sie zu spalten. Der Kampf um gemeinsame Forderungen dürfte schwieriger werden.
UZ: Ist es der Arbeitgeberseite mit dem Abschluss gelungen, die Forderung nach kollektiver Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalusgleich und die Verteilungsfrage weiter in den Hintergrund zu drängen?
Anne Rieger: Ja, das denke ich, ist das größte Problem.
Mit dem Trick der zweijährigen Laufzeit, ist es dem Arbeitgeber gelungen, den Schein darzustellen, dass es ab 1. Januar 2018 AZV ohne Lohnkürzung gibt. Klar, das tarifliche Einkommen gegenüber dem Jahr zuvor verringert sich nicht. Aber natürlich ist es ein Verlust gegenüber der „Basistabelle“, der Lohntabelle der Kollegen, die sich auf Grund ihrer prekären finanziellen Situation einen „Verzicht“ nicht leisten können.
Für die etwas „besser“ Verdienenden ist es Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich. Sie zahlen sich ihre Arbeitszeitverkürzung ab 1.1.2018 selber, denn sie bekommen die 2,6 Prozent Erhöhung nicht. Sie leben damit, dass, wer kürzer arbeitet, auch weniger verdient. Die Profite der Arbeitgeber sind in dieser Überlegung außen vor. Mit dem Abschluss kann sich bei vielen der Gedanke verfestigen: „Gut, ich bekomme zwar weniger, aber das ist es mir wert.“ Über AZV bei (vollem) Lohnausgleich zu reden wird schwieriger, dafür zu kämpfen in weitere Fernen gerückt.
Wenn wir eine solche Arbeitszeitverkürzung gemeinsam mit den Gewerkschaften als Erfolg darstellen, verabschieden wir uns von unserer Forderung Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich.
Sich selbst bezahlter AZV ist im Hinblick auf die Forderung nach AZV bei vollem Lohn- und Personalausgleich keine Erfolg sondern das Gegenteil. Denn verteilt wird hier nicht zwischen den Klassen, die Verteilungsfrage wird in den Hintergrund gedrängt. Bei der Arbeit“gebern“ macht das gern Schule. Sie wissen, dass die Arbeit in den Betrieben immer unerträglicher wird, und die KollegInnen eine verkürzte AZ brauchen. Aber wir wissen, höhere Einkommen sind auch dringend nötig (siehe DKP-Broschüre „30 Stunden sind genug!“).
Der Kompromiss der unterschiedlichen Bedürfnisse in der Klasse muss ein Kompromiss darüber sein, wie viel von der erkämpften Erhöhung für Lohn einerseits und wie viel für Arbeitszeitverkürzung andererseits – allerdings für alle – zur Verfügung gestellt wird. Individuelle Arbeitszeitverkürzung, die sich die Beschäftigten selber zahlen, gibt es schon lange. Die Schwäche der Gewerkschaften hat es ermöglicht. In extremer Form heißt sie „freiwillige“ Teilzeit, in weniger extremer Form ist sie individuell verkürzte Arbeitszeit um einige Stunden mit entsprechend gekürztem Lohn. Und sie wird immer häufiger. Die Arbeitgeber sind fein raus.
Rainer Perschewski: Hier ist meine Antwort kategorisch: Nein! Sicherlich kann man drüber streiten ob eine Stunde ausreicht – aber diese Stunde ist bei vollem Lohnausgleich durchgesetzt. Ich arbeite für das gleiche Geld weniger – bezahlt wird es durch das Unternehmen und nicht umgekehrt. Der Personalausgleich muss und wird über die Betriebe stattfinden. Die Deutsche Bahn ist vertraglich verpflichtet bestimmte Leistungen zu erbringen, daran hängen öffentliche Gelder. Das schließt Personalleistungen ein. Sehr wohl befinden wir uns aber durch den technischen Wandel in einem Prozess der dieses zum Teil auffangen wird. In den letzten Jahren musste die DB aber reichlich Personal einstellen, so dass unsere Mitarbeiterzahlen steigen. Im Jahr 2010 war der Personalbestand auf ca. 160 000 KollegInnen geschrumpft und heute sind wir bei knapp 200 000 Beschäftigten in Deutschland. Wir haben seit Jahren keine Reallohnverluste. Dazu haben wir ein tarifvertraglich abgesichertes Geflecht von betrieblichen Sozial- und Gesundheitsleistungen durchgesetzt. Man kann sich nur drüber streiten ob das alles ausreichend ist. Abstriche müssen zum Teil gemacht werden, um alle Bereiche mitnehmen zu können. Aber das ist für mich ein Grundwert von Gewerkschaften: Gemeinsam mehr, statt viel für wenige Durchsetzungsstarke. Auch das hat dieses Mal Priorität gehabt. Ich kann das Argument der Spaltung daher so nicht nachvollziehen.
UZ: Bedeutet dieser Tarifabschluss eine Nulllohnrunde für diejenigen, die sich am 1. Januar 2018 für eine Arbeitszeitverkürzung entscheiden?
Anne Rieger: Definitiv. Angenommen, zwei Kollegen erhalten monatlich. je 3 000 Euro am 31. Dezember 2017. Der Nicht-Verkürzer der Arbeitszeit erhält ab 1. Januar 2018 78 Euro mtl. mehr, auf ein Jahr gerechnet sind das 936 Euro. Dem Verkürzer fehlen sie in 2018 und im Jahr darauf noch mal 936 Euro, also schon knapp 2 000 Euro. Bleibt er bei seiner Entscheidung, fehlen ihm diese 936 Euro (+ der Zinseszins der Lohnerhöhungen) in allen zukünftigen Lohnrunden – und später bei der Rentenberechnung. Das wirkt wie eine Nulllohnrunde. Nur hier entscheidet jeder für sich, ganz individuell. Es bleibt dabei, Arbeitszeitverkürzung statt Lohnerhöhung bedeutet, ich kaufe mir von den 2,6 Prozent 6 Tage Urlaub.
Offen bleibt für mich die Frage, von welcher Lohntabelle die Arbeitgeber die Sozialversicherungsleistungen bezahlen.
Rainer Perschewski: Annes Zahlen machen doch eines deutlich, jemand der die AZV wählt, fährt deutlich besser, denn sechs Tage Urlaub bleiben sechs Tage. Der Bruttolohn hat noch die Abzüge. Die Zinseszins-Rechnung greift nicht, da immer von der Basistabelle einschließlich künftiger Erhöhungen ausgegangen wird. Ich sehe keine Nullrunde. Die Kollegen die mehr Urlaub nehmen, arbeiten weniger und haben sozusagen den Gegenwert. Außerdem wurde eine neue Entgeltstufe eingeführt von der jetzt und zukünftig ältere Mitarbeiter profitieren – davon haben wir viele. Dazu endet der Tarifvertrag zum 30. September 2018. Wir werden also in 2018 noch mal verhandeln.
UZ: Wie wird der Abschluss im Betrieb diskutiert? Was zeichnet sich ab: Welche Wahlmöglichkeiten sind die attraktivsten für die Kolleginnen und Kollegen.
Rainer Perschewski: Egal in welcher Lohngruppe ich bisher gefragt habe oder was wir in den Beratungen an Rückmeldungen ausgetauscht haben wird es wahrscheinlich so sein, dass der größte Teil die Urlaubstage wählen wird. Selbst von Kollegen mit im konzernvergleich niedrigen Lohngruppen bekommen wir die Rückmeldung: Sechs Tage mehr Urlaub sind einfach unbezahlbar! Ich habe noch nie so wenig Kritik an einem Tarifabschluss gehört. Sogar aus anderen Gewerkschaften bekomme ich die Rückmeldung „Das ist ja Fett! – Das will ich auch!“ Dieser Abschluss hat uns stärker gemacht.