Am Mittwoch, dem 6. September, berichtete ARD-Korrespondentin Katja Garmasch aus Kiew in der „Tagesschau“, auf einem Markt in der Stadt Kostjantyniwka in der Ostukraine seien durch den Einschlag einer russischen S-300-Rakete 16 Menschen getötet und 34 verletzt worden. Am selben Tag seien die dänische Ministerpräsidentin Mette Frederiksen und US-Außenminister Antony Blinken in Kiew zu Gast und dort finde der „First Ladies and Gentlemen Summit“ statt. Vielleicht sei der russische Angriff ein „Begrüßungsfeuerwerk“ Putins für den am Vormittag ernannten neuen Kriegsminister Kiews, Rustem Umerow, und ein „Signal an die ganze Welt“ und die internationalen Gäste, dass es „nirgendwo in der Ukraine sicher“ sei. Deutsche „Taurus“-Lieferungen seien nötig, so Garmasch mit Hinblick auf die Explosion. Das Thema des Treffens der „First Ladies and Gentlemen“ war übrigens „geistige Gesundheit“.
Der Kiewer Präsident Wladimir Selenski nannte das Geschehen in Kostjantyniwka eine „Unverschämtheit des Bösen“ und veröffentlichte ein kurzes Video, das den Moment der Explosion in dem belebten Viertel zeigen soll, sowie Fotos von beschädigten Häuserfassaden, Blutlachen auf dem Boden und Rettungskräften, die Flammen löschen.
Offenbar war das ein Fehler. Denn am 18. September veröffentlichte die „New York Times“ (NYT) eine Analyse, die sich auch auf dieses Material stützte sowie auf Satellitenbilder, Zeugenaussagen, Überwachungskameras und „soziale Medien“. Das Ergebnis: Der Raketenbeschuss vom 6. September auf Kostiantyniwka wurde nicht von russischen Truppen verübt, es habe sich um eine fehlgeleitete Kiewer 9M38-Rakete gehandelt, die von einem mobilen Buk-Boden-Luft-Lenkwaffensystem abgefeuert wird. Die US-Journalisten verwiesen unter anderem auf die Richtung, aus der die Rakete dem Video zufolge geflogen kam, sowie auf Fragmente des Geschosses. Es sei nahe der rund 16 Kilometer nordwestlich gelegenen Nachbarstadt Druschkiwka abgefeuert worden. Dort habe Kiews Militär wenige Minuten vor dem Einschlag zwei Boden-Luft-Raketen in Richtung der russischen Frontlinie abgefeuert. Das werde auch durch Telegram-Posts von Bewohnern Druschkiwkas bestätigt. Eine Rakete aus dem S-300-System trage zudem einen anderen Sprengkopf als die, die in Kostjantyniwka niedergegangen sei. Sehr wahrscheinlich sei die Rakete nach einer Fehlfunktion mit nicht verbrauchtem Treibstoff eingeschlagen, was eine mögliche Erklärung für die weitverbreiteten Brandspuren auf dem Markt sei.
Die Reaktion in Kiew entsprach den Kriterien der dort vorwaltenden geistigen Gesundheit. Selenskis Berater Michail Podoljak schrieb am 19. September auf „Telegram“, solche Gerüchte wie im NYT-Bericht förderten „Verschwörungstheorien“. Die Ukraine sei „ausschließlich defensiv“. Das Kiewer Internetportal „glavcom.ua“, das den NYT-Artikel als „skandalös“ klassifizierte, zitierte am selben Tag den Geheimdienst SBU, der verlautbarte, es handele sich um „ein weiteres von der Russischen Föderation begangenes Kriegsverbrechen“. Das werde „insbesondere durch die identifizierten Raketensplitter bewiesen, die am Ort der Tragödie gefunden wurden“. Der SBU hielt fest, der NYT-Artikel sei „ziemlich manipulativ“ und der Autor des Artikels „Thomas Gibbons-Neff, der schon mehrfach durch die Förderung der russischen Agenda aufgefallen“ sei. Der Geheimdienst wartete flugs mit einem Dossier auf: „Zuvor schrieb er, dass die Ukraine Streumunition in bewohnten Gebieten einsetzt, behauptete, dass unser Militär mit Panzern und Artillerie handelt, und beschuldigte amerikanische Freiwillige, die der Ukraine helfen, Geld zu verschwenden“. Ihm sei bereits zweimal der Presseausweis entzogen worden. „Glavcom.ua“ gab zudem den Verschwörungswahn eines ehemaligen SBU-Offiziers namens Juri Michaltschischin wieder, dem zufolge Russland bei den „Scheißefressern“ der NYT einen Artikel in Auftrag gegeben haben, „der mit der Ankunft des ukrainischen Präsidenten in den Vereinigten Staaten zur Teilnahme an der UN-Generalversammlung zusammenfiel“.
Am Erscheinungstag des Artikels in der NYT feuerte übrigens der neue Kriegsminister Umerow alle bisherigen sechs Stellvertreter. Am 26. September berichtete „Tass“, dass Kiews Armee in den vergangenen 24 Stunden 85 Geschosse, darunter westliche HARM-Raketen und Raketen mit Streumunition, auf Wohngebiete der Donezker Volksrepublik abgefeuert hätten. In Donezk und in Gorlowka seien je zwei Menschen verletzt worden. Westliche Medien berichteten wie üblich über die ausschließlichen Defensivmaßnahmen Kiews nicht.