Geistig-moralische Wende 2.0

Von Phillip Becher

Für CSU-Chef Horst Seehofer war es laut eigenem Bekunden ein „Genuss“. PEGIDA hingegen dürfte die letzte Woche Freitag vom Bundesrat beschlossene Änderung des Asylrechts, die Verschärfungen bei Abschiebungen und Einschränkungen bei Sozialleistungen vorsieht, wohl nicht weit genug gehen. Die selbsternannten „Patriotischen Europäer“, die auf ihrem Facebook-Auftritt auch gerne zustimmend Meldungen des Deutschen Arbeitgeberverbandes (DAV) teilen, schenkten sich zum einjährigen Geburtstag am vergangenen Montag in Dresden eine Demo „mit internationaler Beteiligung“. Erneut folgten tausende Menschen dem Aufruf der Rechten.

Es sind die Geburtswehen einer anderen Republik, von der die AfD und Teile der Union schon länger träumen. Traumweber sind Kapitalkreise, die – ebenso wie die genannten Parteien – nichts gegen die Anwesenheit formal hoch qualifizierter ausländischer Arbeitskräfte, für deren Ausbildung weder die Kapitalseite selbst noch der Staat als ideeller Gesamtkapitalist aufkommen musste, haben, die aber die aktuelle Krisensituation für die Flucht nach vorne nutzen wollen. Eine Neuauflage der einst von Helmut Kohl verkündeten „geistig-moralischen Wende“ bahnt sich an. Was nach dem Regierungswechsel 1982 zehn Jahre bis zum Anschlag von Rostock-Lichtenhagen brauchte, ist nun – mit Brandbeschleuniger in Medien und auf den Straßen dieses Landes ausgestattet – mit voller Wucht im Begriff mit neuer Härte durchzuschlagen.

Wie schnell hierbei die Dynamik auch konzilianter auftretende Vertreter aus den Reihen der bürgerlichen Parteien in Mitleidenschaft ziehen kann, zeigt die Messerattacke auf die Kölner OB-Kandidatin Henriette Reker am vergangenen Wochenende. Den allem Anschein nach dem neofaschistischen Milieu entstammenden Attentäter trieb ein Motiv, das auch hinter den Fememorden der Organisation Consul in den 1920er Jahren steckte: Für die Gewährleistung des Fortbestands der bürgerlichen Ordnung als unfähig erachtete Politiker müssen aus faschistischem Blickwinkel im Interesse eben dieser Ordnung aus dem Weg geräumt werden. Der öffentliche Schock ist groß, sogar der Hardliner De Maizière bezeichnet die PEGIDA-Organisatoren inzwischen als „harte Rechtsextremisten“ – die Angriffe auf Geflüchtetenunterkünfte gehen derweil unvermindert weiter und das schon lange nicht mehr nur im vielgescholtenen Osten, sondern eben auch im tiefsten Westen.

Damit setzt der Auftakt für die Verwirklichung umfassender Umbau-Pläne, die das hiesige Entscheidungssystem den Erfordernissen der Kapitalbildung höchstmöglich anpassen wollen, im Zentrum des imperialistischen Systems der EU an dem Punkt an, an dem sie an den Rändern – das namentlich in Ungarn – ihren bisherigen Höhepunkt erreicht haben: Viktor Orbáns inzwischen schon ein halbes Jahrzehnt währendes autoritäres Projekt an der Donau entfernte bereits kritische Journalisten aus den öffentlichen Rundfunkanstalten, verpflichtete Kapital und Arbeit zur Zusammenarbeit (und rückte Arbeitskämpfe damit auch in die Nähe des Landesverrats) und drückte Gesinnungsparagraphen gegen die Opposition durch. Nun baut die Budapester Regierung Grenzzäune. In Deutschland wird allem Anschein nach der umgekehrte Weg beschritten. Unterdessen werden die Konservativen von rechts angeschoben und bereiten mit ihrer Rhetorik wiederum der AfD den Boden: Würden jetzt Bundestagswahlen stattfinden, säße die zwischenzeitlich am Ende gewähnte Partei locker in Fraktionsstärke im nationalen Parlament.

So steht hinter „Ausländer raus“ immer „Demokratie raus“, wie der Marxist Reinhard Opitz vor gut 30 Jahren analysierte. Das Schlagwort, unter dem sich die Inhalte der reaktionären Wende subsummieren lassen, geistert bereits durch die rechten Kreise dieses Landes: Dritte Republik. Reich sind diejenigen, die sich von diesem Umbau objektiv etwas versprechen können (frei nach Dietrich Kittner), ja in der Regel bereits. Orbáns Standpunkt, wonach ein „deutsches Leben oder ein ungarisches Leben“ nur demjenigen zustehe, „der dafür gearbeitet“ habe, klingt nach Leistungsprinzip – ist in Wahrheit aber Bedienen des Leistungsmythos. Die Rechtswende wird nämlich auch einen Teil derjenigen treffen, denen jetzt noch weisgemacht wird, dass Orbán und Seehofer sie mit „Leistungsträger“ meinen und dass die Früchte ihrer Arbeit durch Zugewanderte und Geflüchtete bedroht wären. Sie können aber keine Verbesserung ihrer eigenen Lage durch die Unterstützung eines Projekts erwarten, das im Sinne derjenigen Kräfte wirkt, die an der Massenverelendung hierzulande und in ganz Europa sowie an der Destabilisierung der Fluchtländer mitverdient haben, sprich den in AfD und CSU ihren parlamentarischen Ansprechpartner findenden Kapitalfraktionen.

Der CSU-Bundestagsabgeordnete Florian Hahn gehört zu denen, die in der Flüchtlingsfrage eine härtere Gangart einlegen wollen. Hahn ist ein Freund der Rüstungsindustrie, der früher für die Presse- und Öffentlichkeitsabteilung der Waffenschmiede Krauss-Maffei Wegmann arbeitete und gegenwärtig im Präsidium der Deutschen Gesellschaft für Wehrtechnik sitzt. Die Panzer seines einstigen Arbeitgebers fahren heute unter der Sonne Saudi-Arabiens – und das nicht zum Vergnügen. Dass die saudischen Diktatoren zu den Destabilisatoren Syriens – ein Hauptfluchtland – gehören, ist sattsam bekannt. Das politische System des staatsmonopolistischen Kapitalismus beruft seine Vertreter also nach wie vor nach einem altbekannten Prinzip: Böcke als Gärtner.

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"Geistig-moralische Wende 2.0", UZ vom 23. Oktober 2015



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