Über die Möglichkeit einer Systemabwahl • Kolumne von Günter Pohl

Gegnerfreie Demokratie

Auf welche Art sich Staaten gegen eine Änderung des in ihrem Herrschaftsgebiet geltenden Wirtschaftssystems schützen, ist schon im Ansatz die falsche Frage. Staaten – seelenlos wie sie sind – schützen sich nicht. Ebenso schützen sich Verfassungen nicht. Beide Begriffe sind Konstrukte des Idealismus.

Daher lohnt der Blick auf Greifbares, auf Materialistisches, wenn es um das immer aktuelle „Wem nützt es?“ geht. Wer „sein Wirtschaftssystem“ schützt, ist Nutznießer desselben. Das ist im Sozialismus nicht anders als im Kapitalismus. Es sind die herrschenden Klassen, die sich den Staat so formen, dass ihr Wille sich im Gebaren des Staates manifestiert.

Im Sozialismus ist die herrschende Klasse weniger mit der real die Macht ausübenden Klasse kongruent als im Kapitalismus – das Bewusstsein, Teil der ausübenden Gewalt zu sein, ist bei den Besitzenden traditionell stärker ausgeprägt als bei den Arbeitenden. Weil sie zahlenmäßig eine enorm große Klasse ist, wird im Sozialismus die real existierende Macht der Arbeiterklasse von der Kommunistischen Partei verwaltet; Einzelne, die sich dieser Partei nicht angeschlossen haben, bemühen sich gleichermaßen um den sozialistischen Aufbau, aber ins Gewicht fallen in der Regel mehr die Entscheidungen der (in der Partei) organisierten Klasse. Wäre „Revolutionäre müssen keine Kommunisten sein, aber Kommunisten sehr wohl Revolutionäre“ in beide Richtungen verstanden und verinnerlicht worden, hätte der europäische Sozialismus stärkere Kohäsionskräfte gehabt und die Kommunistischen Parteien weniger Opportunismus in ihren Reihen.

Die Herrschenden im Kapitalismus haben dagegen eine anspruchsvollere Aufgabe als nur die mitzunehmen, die ihrer Schicht angehören. Da sie allein ihre eigenen, also die Interessen einer kleinen Schicht vertreten, müssen sie auch solche Gruppen in das System einbinden, die sich mit der Alimentierung der Schmarotzerschicht selbst ins Knie schießen. Dazu hat man ein kompliziertes Geflecht von Herrschaftsabteilungen und -schimären geschaffen, es nach griechischem Vorbild Demokratie genannt, politische Vertretungen eingeführt und als Beweisführung einen klassischen Zirkelschluss genutzt: Demokratie ist, wenn es verschiedene Parteien gibt; verschiedene Parteien gibt es nur in einer Demokratie. Sogar Kommunistische Parteien gehören dazu. Mit seinen Gegnern will man nachweisen, dass das System demokratisch abwählbar sei – etwas Phantasie und Geschichtsblindheit vorausgesetzt.

Der Sozialismus verzichtet(e) im Vertrauen auf die Vernunft auf Schimären und Zirkelschlüsse und daher auf den Demokratiebeweis namens „Mehrparteiensystem“. Sozialismus ist daher nicht demokratisch, befinden die Besitzenden der kapitalistischen Staaten, die selbst geführt sind von Industriekonsortien, Kapitalgesellschaften, Rüstungs-, Drogen-, Energie- und Menschenhandelsmafia – keine dieser Mächte ist (ab)wählbar. Es sind just die gefühlsdemokratische Europäische Union und ihre Wunschbeitrittsländer, in denen seit Jahren eine nach der anderen die Kommunistischen Parteien ausgesondert werden; in Ungarn, den baltischen Staaten, der Türkei, Polen, der Ukraine, Tschechien, Rumänien. Um die KPen loszuwerden, ist nicht immer ein Verbot nötig. Zuweilen wird nur die Symbolik unter Haftandrohung gestellt oder die KP-Zeitung darf nicht mehr schreiben, was Kommunisten denken oder eine Wahlteilnahme wird verboten.

In Deutschland geben zu spät eingereichte Rechenschaftsberichte die Begründung ab, um die KP stillzulegen. „Das deutsche Leben gehört dem Aktenverkehr“ befand Kurt Tucholsky 1926. „Frist ist Frist“, sagt der Bundeswahlleiter 2021. Manche halten sich für stark genug, einen Abwahlmöglichkeitsnachweis nicht mehr bevorraten zu müssen.

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"Gegnerfreie Demokratie", UZ vom 30. Juli 2021



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