Schon am frühen Montagmorgen ging nichts mehr in Berlin. Als die Sternfahrt der protestierenden Bauern um 7.30 Uhr begann, war das Ziel der Protestzüge – das Brandenburger Tor – bereits voller Traktoren und Menschen. Auch im Umland, auf den Straßen und Autobahnen waren Landwirte unterwegs, um ihrem Unmut Luft zu machen. Wie viele es am Ende bis zum Kundgebungsort schafften, ist umstritten. Die Polizei sprach von 8.500 Teilnehmern und 6.000 Fahrzeugen. Der Bauernverband ging von rund 30.000 Demonstranten aus. Auch UZ-Korrespondent Aribert Schilling, der vor Ort an den Protesten teilnahm, schätzte eine Teilnehmerzahl im Zehntausenderbereich.
Im Austausch mit den Protestierenden wurde schnell deutlich, dass es um mehr als Kfz-Steuern oder den Agrardiesel ging. Häufig wurde davon gesprochen, dass dies nur die Tropfen seien, die das Fass zum Überlaufen gebracht hätten. „Hier wurde aber gegen den Inhalt des ganzen Fasses demonstriert“, schätzte Schilling die Lage ein. Die Erfahrungen der Landwirte vor Ort glichen sich. Von ruinierten Kleinbetrieben und dem Höfesterben war die Rede, von Schikanen durch die Regierung und von angezogenen Stellschrauben, die in den vergangenen 25 Jahren mehr als ein Drittel aller Höfe in den Untergang getrieben hatten.
Der Zorn darüber, dass die Ampel-Koalition diese Prozesse jetzt noch weiter beschleunigen will und noch höhere Belastungen für die Landwirtschaft plant, um die Kosten für den Stellvertreterkrieg in der Ukraine und die Hochrüstung einzutreiben, war groß. Kein Wunder, dass an vielen Traktoren durchgestrichene, kaputte oder aufgehängte Ampeln zu sehen waren. „Die Steuerbelastungen sind nur der Stein des Anstoßes“, erzählte ein Landwirt UZ-Praktikantin Bella Gruber, die ebenfalls am Brandenburger Tor unterwegs war. Die Kosten sowohl für die Tier- als auch für die Pflanzenproduktion stiegen ständig. „Es geht jetzt um unsere Zukunft und nicht zuletzt auch um die Existenz.“
Die in bürgerlichen Zeitungen häufig wiederholte Behauptung, die Bauernproteste seien von rechts unterwandert, nahm er gelassen auf. „Schwarze Schafe gibt es in jeder Branche, davon sollte man sich ganz klar distanzieren“, sagte er und verwies auf den Bauernverband, der das getan habe. Ein anderer Demonstrant machte deutlich, dass hinter diesen aufgebauschten Meldungen der Wunsch stehe, die Proteste zu diskreditieren. Die Erzählung von den angeblich rechten Bauern sei ein Werk der „Medienmacher“. Er sei „unzufrieden mit der Politik in diesem Land“, aber deswegen noch lange nicht rechts.
Einen unübersehbar rechten Vereinnahmungsversuch gab es aber doch: Die Rede von Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP). Bevor er anfangen konnte zu sprechen, stand Lindner minutenlang auf der Bühne, um sich die Pfiffe und Buhrufe der versammelten Bauern anzuhören. Erst nachdem Bauernpräsident Joachim Rukwied die Menge gebeten hatte, der eigenen Stimmung erst nach der Rede Ausdruck zu verleihen, begann der Finanzminister mit seiner Ansprache. Gegen den Unmut seines Publikums kam er trotzdem nicht an. Selbst wenige Meter vor der Bühne war die Rede kaum noch zu verstehen.
Er habe mit Blick auf den Protest „Angst vor schrecklichen Bildern“ gehabt, erklärte Lindner zu Beginn. Doch davon sei nichts eingetreten, lobte er den Protest, bevor er sich mit dem Unterschied zwischen Bauern und „Klimaklebern“ befasste. Letztere seien „linksextremistisch“ unterwandert, brüllte er gegen den Lärm an. Dieses FDP-Standardprogramm wollten die Demonstranten jedoch genauso wenig hören wie die vollkommen aus der Welt gefallenen Erzählungen, dass sich Lindner als Jäger und „Chef des Bundesforstes“ gut auskenne. Auch als Pferdebesitzer sei er „schon fertig, wenn ich den Pferdestall einmal ausgemistet habe“.
Die erhofften Sympathien blieben aus. „Hau ab!“ und „Lügner!“ skandierte die Menge, auch als der Minister zum ganz rechten Schlag ausholte: „Es ärgert mich, dass ich vor Ihnen als dem fleißigen Mittelstand über Kürzungen sprechen muss, während auf der anderen Seite in unserem Land Menschen Geld bekommen für das Nichtstun.“ Deshalb, so Lindner, „kürzen wir die Leistungen für Asylbewerber, deshalb sparen wir eine Milliarde Euro beim Bürgergeld“.
Eine Rücknahme der Agrarkürzungen verkündete er indes nicht, sprach sogar von einem „fairen Beitrag“, den die Landwirte erbringen müssten. Ganz explizit auch für die weitere Aufrüstung der Bundeswehr. Stattdessen wurden Gespräche zwischen den Ampel-Fraktionen und dem Bauernverband angekündigt. Die erste Runde fand schon kurz nach der Demonstration statt und zeitigte „keine Ergebnisse“, wie Präsident Rukwied anschließend erklärte.
Für den Fall, dass die Kürzungen nicht zurückgenommen werden, wurden weitere Proteste angekündigt. Diese könnten das Potential haben, größere Schichten der Bevölkerung einzubinden. Schon in Berlin nahmen nicht nur Landwirte, sondern auch zahlreiche Vertreter von mittelständischen Betrieben aus dem Transportgewerbe, der Forstwirtschaft, der Gastronomie und dem Handwerk teil. Aribert Schilling hörte ihnen zu: „Ganz oft haben sie gesagt, dass es ihnen allen an den Kragen gehen wird, wenn sie sich nicht gemeinsam zur Wehr setzen.“