Überlegungen zum russischen LGBT-Verbot

Gegen die NATO gerichtet?

Kolumne

Auch Länder, die im Fadenkreuz des Imperialismus stehen – wie Russland –, sind nicht frei von Widersprüchen. Die einfache Negation des liberalen Mainstreams dreht den Diskurs nur um und stellt ihn nicht auf die Füße. Beim Blick auf die russische Innenpolitik lohnt es sich also, die Arbeits- und Lebensbedingungen der arbeitenden Menschen als Kompass zu nehmen.

Der von der Orthodoxen Kirche im Bündnis mit politischen Formationen geführte Kampf gegen das Propagieren „nicht-traditioneller Werte“ dient der Herstellung einer politisch-moralischen Einheit auf Basis traditioneller Familienstrukturen. Dagegen steht die NATO als imperialistisches Kriegsbündnis und wird nicht müde, in maximaler Verzerrung der Realität ihre angeblichen Bemühungen um den Frieden in der Welt zu betonen – mitsamt ihrem angeblichen Eintreten für Menschenrechte. So funktioniert Propaganda nun mal.

Die Anti-LGBT-Kampagne in Russland ist Teil der offiziell ausgerufenen Konsolidierung der Gesellschaft und dient im Krieg zwischen der NATO und Russland der Sicherung der Heimatfront. Zu den Hintergründen wurde in dieser Zeitung (UZ vom 15. Dezember 2023) geschrieben und im Aufsatz von Ditte Gerns in den Marxistischen Blättern 6/23 wird auf entsprechende Beratungen und Bündniskonstellationen in der Russischen Föderation hingewiesen.

Betrachten wir die politische Legitimation, welche durch begleitende Aussagen und Reden regierungsoffizieller Vertreter zu den russischen staatlichen Maßnahmen gegen „LGBT-Propaganda“ und so weiter seit 2013 vorgebracht werden, lassen sich drei Behauptungen ausmachen: Homosexuelle und Transpersonen werden mit Pädophilie und „Satanismus“ in einen Zusammenhang gestellt. Die Darstellung homosexueller Realität wird mit der Propagierung einer familienfeindlichen Agenda gleichgesetzt. Aktivisten, die lesbisch, gay, bi oder trans sind (LGBT) und für Menschenrechte eintreten, seien Instrumente ausländischer Mächte und dienten der NATO-Strategie gegen Russland.

Es stellt sich also die Frage: Verbessert das Verbot „der LGBT-Bewegung“ in Russland die Chancen des Landes, sich gegen die NATO-Aggression zu behaupten? Oder bedient es vor allem die Forderungen konservativ-christlicher Kreise?

Schließlich tragen die Argumente gegen „die LGBT-Bewegung“ Züge der Sozialdemagogie reaktionärer Kräfte, die versuchen, den Klassenkampf in einen Kulturkampf umzuleiten. Sie lenken objektiv davon ab, dass die bürgerliche Kernfamilie nicht zuerst durch falsche Moralvorstellungen zerstört wird, sondern mit gesellschaftlich geschaffenen Zwängen – wie Arbeitshetze, Individualismus, Konsumterror, Überstunden und Schulden – konfrontiert ist, bis ihre heile Welt dem nicht mehr standhält.

So zum Beispiel die Orthodoxe Kirche: RT zitiert einen Kirchensprecher namens Kipshidze, der erklärt: „Da die Ehe als Vereinigung eines Mannes und einer Frau ein historisch christliches Konzept in Europa sei, sei ihre Unterminierung ein Angriff auf das Christentum selbst.“ Der Sprecher des Moskauer Patriarchats führt weiter aus: „Dies führt dazu, dass die Rechte von Gläubigen in Ländern, in denen die LGBT-Bewegung frei agieren kann, verletzt werden. In vielen westlichen Ländern sind LGBT-Lebensgemeinschaften rechtlich mit der Ehe gleichgestellt.“ Weiterhin verwies er „auf Fälle im Westen, in denen LGBT-Gruppen Geistliche verklagten, die gleichgeschlechtliche Beziehungen als sündhaft bezeichneten, wodurch das Zitieren der Bibel praktisch zu einem Verbrechen wurde“.

Da wundert es nicht, dass die Russisch-Orthodoxe Kirche die neue Regelung als „Selbstverteidigung“ verteidigt. Nur, gegen wen? Darüber klärt Staatsduma-Sprecher Wolodin auf: Die Regelung schütze vor einer westlichen „Transgender-Industrie“ – mit Freiheitsstrafe von bis zu sechs Jahren.

Das russische Nachrichtenportal RT befragt und zitiert verschiedene Anwälte dazu. Da ist zum einen die dargestellte Meinung, dass sich die Regelung nur gegen propagierende Organisationszusammenhänge und nicht gegen Einzelpersonen richte. RT veröffentlicht jedoch auch andere Einschätzungen bekannter Juristen:

„Er (der Anwalt Aleksey Mikhalchik) sagte, das Urteil werde sich wahrscheinlich auf diejenigen auswirken, die an Extremismus-bezogenen Aktivitäten teilnehmen und sich selbst als Pro-LGBT-Aktivisten bezeichnen. Dennoch müsse man nicht unbedingt eine ‚LGBT-Mitgliedskarte‘ besitzen oder Mitglied einer Gruppe sein, um mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten, warnte er. Einige äußerten jedoch die Befürchtung, dass die Bezeichnung angesichts der Geheimhaltung der Gerichtsanhörung und der vagen Definition der ‚internationalen LGBT-Bewegung‘ eine ‚große Anzahl‘ von Menschen betreffen könnte.“

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"Gegen die NATO gerichtet?", UZ vom 26. Januar 2024



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