Die Stiftung „Ethik und Ökonomie“, kurz „ethecon“, hat am 9. November den Whistleblower Julian Assange geehrt. Sie verlieh ihm den internationalen „ethecon Blue Planet Award 2024“. Mit dem Preis ehrt die Stiftung herausragende Leistungen für den Schutz und die Bewahrung des Blauen Planeten. 2021 ging er an die malische Menschenrechts- und Friedensaktivistin Aminata Dramane Traoré, 2020 an Phyllis Omido, eine Umwelt- und Menschenrechtsaktivistin aus Kenia. Nach einer Corona-Zwangspause hat die Stiftung die Tradition, die 2006 begründet wurde, nun – wenn auch im Online-Format – wieder aufnehmen können. Zu der Verleihung gehört auch ein Schmähpreis, der „Dead Planet Award“. Er ging in diesem Jahr an den Medienkonzern Springer SE. Die Laudatio von Werner Rügemer kann – wie auch weitere Reden – auf www.ethecon.org nachgehört und -gelesen werden. Auf dieser Seite veröffentlichen wir Auszüge aus der Laudation von Marie Wasilewski von FreeAssange.eu für Julian Assange sowie ein Grußwort seiner Familie.
„Wenn Kriege durch Lügen entfacht werden können, kann der Frieden durch die Wahrheit gebracht werden.“ Dieses berühmte Zitat von Julian Assange zeigt sehr deutlich, worum es dem WikiLeaks-Gründer geht: um eine friedlichere Welt. Julian Assange, am 3. Juli 1971 im australischen Townsville geboren, hat sich wie kaum ein anderer um den Frieden und die Wahrheit in dieser Welt verdient gemacht. Als wesentliches Charaktermerkmal berichten seine Freunde und die Familie von seinem tiefen Gerechtigkeitsempfinden und dass er sich seit seiner Kindheit für die Schwächsten und Unterdrückten einsetzt. Mit seinen Computerkenntnissen half er als junger Mann der australischen Polizei bei der Ergreifung eines Kinderschänderrings. Menschen, die ihn schon lange kennen, beschreiben ihn als „unendlich freundlich und hilfsbereit“. (…)
Besonders beeindruckend ist seine Selbstlosigkeit. Exemplarisch sieht man dies an einem Bild, das in der ecuadorianischen Botschaft aufgenommen wurde. Dort sieht man ihn am Fenster stehend, hinter einem Vorhang, mit einem Schild in der Hand. Auf diesem Schild steht nicht etwa „Free Assange“ – auf diesem Schild steht „Free Palestine“. Während er selbst seit Jahren politisch verfolgt und in der Botschaft gefangen gehalten wurde – was eine Arbeitsgruppe der UN schon 2016 dokumentierte und als willkürliche Gefangenschaft erkannte – kämpfte er nicht für sich selbst, sondern in erster Linie für andere.
Assange hat die Machtfrage gestellt
Beim Kampf für die Freiheit des WikiLeaks-Gründers ging es um viel mehr als „nur“ um den Kampf für einen einzelnen politisch verfolgten Journalisten. Mit WikiLeaks hat Julian Assange die Machtfrage gestellt. Vor WikiLeaks hatte es lange Zeit so ausgesehen, als wäre die Hegemonie des US-Imperialismus unanfechtbar. Es schien so, als wären die USA mit ihren imperialistischen Kriegen übermächtig. Dann kam WikiLeaks. Auf einmal war die schmutzige Wahrheit über die Kriege des Westens für alle sichtbar, die bereit waren, sich ihr zu stellen.
Statt sogenannter „chirurgischer Operationen“ sah man die Wahrheit über Zehntausende unschuldiger Opfer. Zivilisten, Familien, Frauen, Kinder, die erbarmungslos Tag für Tag massakriert wurden, im Irak, in Afghanistan. Das Grauen des Krieges trotzt der Beschreibung durch einfache Worte. WikiLeaks zeigte aber nicht nur die grausame Realität der völkerrechtswidrigen Angriffskriege gegen den Irak und gegen Afghanistan. Die Plattform machte gleichzeitig auch deutlich: Diese grausame Realität muss nicht zwangsläufig so aussehen. Man kann etwas dafür tun, dass es besser wird. Ich bin mir sicher, dass die erbarmungslose Verfolgung von Julian Assange durch die USA und ihre Vasallen mit dieser Botschaft zusammenhängt.
Bevölkerung soll kriegstüchtig werden
Was zeigen uns die Veröffentlichungen auf WikiLeaks außerdem? Assange hat immer wieder darauf hingewiesen: Die normale Bevölkerung will von sich aus keinen Krieg. Um öffentliche Unterstützung für Kriege zu fabrizieren, werden die Menschen durch die Medien manipuliert. In Dauerschleife werden Lügen wiederholt, wie beispielsweise die Brutkastenlüge vor dem ersten Krieg der USA gegen den Irak. Dabei wurde behauptet, irakische Soldaten würden Frühgeborene aus ihren Brutkästen reißen und sie zum Sterben auf den Boden werfen. Dies stellte sich später als eine Lüge heraus, die von einer US-PR-Agentur gezielt entwickelt worden war. Vor dem Zweiten Krieg der USA und Großbritanniens gegen den Irak wurde gezielt die Lüge verbreitet, es gäbe Massenvernichtungswaffen im Irak. Jahre später stellte sich dies ebenfalls als glatte Lüge heraus. Zu dem Zeitpunkt hatten in diesem Krieg Hunderttausende Menschen ihr Leben verloren, waren verstümmelt, traumatisiert, für ihr Leben gezeichnet, hatten ihre Heimat verloren, ein ganzes Land war verwüstet. Wozu all das? Das ganze Muster wiederholt sich mindestens seit Jahrzehnten, eher sogar länger. Eine Lüge ermöglicht erst die Zustimmung der Bevölkerung für einen Krieg, für den dann die Bevölkerungen aller beteiligten Länder einen furchtbaren Preis bezahlen. Auch der Vietnamkrieg beispielsweise wurde erst durch eine Lüge der US-Regierung möglich, die einfach den Tonkin-Zwischenfall erfand. Was ist mit den aktuellen Kriegen in der Ukraine und in Palästina? Wie viel Vertrauen ist den Medien in diesen Fällen zu schenken? Warum glaubt die Bevölkerung eigentlich immer wieder den medialen Falschdarstellungen, obwohl die Lügen der vergangenen Jahrzehnte inzwischen ganz offen auf dem Tisch liegen?
Das Ziel ist Gerechtigkeit
Mit WikiLeaks hat Julian Assange uns ein Instrument geschenkt, dieses wahnwitzige Lügenspiel endlich zu durchschauen und die Wahrheit sichtbar zu machen. Auf der Internet-Plattform sind die Originaldokumente einsehbar. Man kann die Fakten dort nachprüfen. Es ist eine wahre Goldgrube, insbesondere für Journalisten. WikiLeaks ist die einzige Plattform, die immer zu 100 Prozent korrekte Fakten geliefert hat. Es musste nie auch nur eine Veröffentlichung dementiert oder als falsch zurückgezogen werden. Keine andere Plattform kann das von sich behaupten. Mit seinem Ansatz des wissenschaftlichen Journalismus’ hat Julian Assange zudem das journalistische Arbeiten auf ein höheres Level gehoben. Der anonyme Briefkasten – eine Erfindung von WikiLeaks, die heute von vielen Medien weltweit genutzt wird – ermöglicht die anonyme Übermittlung sensibler Informationen im öffentlichen Interesse vom Whistleblower an den Journalisten.
Doch worum geht es letzten Endes bei WikiLeaks? Die Antwort lässt sich mit dem WikiLeaks-Motto präzise auf den Punkt bringen: „Das Ziel ist Gerechtigkeit. Die Methode ist Transparenz.“ Wie können wir eine friedlichere, gerechtere Welt erreichen? Diese Frage war der Ausgangspunkt Julian Assanges für die Gründung von WikiLeaks. Er kam zu dem Schluss: Dreh- und Angelpunkt ist die Wahrheit. Wir als Bevölkerung brauchen die Wahrheit, um mehr Gerechtigkeit in diese Welt zu bringen. Man muss erst Kenntnis eines Unrechts haben, um etwas dagegen unternehmen zu können. „Man kann keinen Wolkenkratzer aus Knetmasse bauen. Und man kann keine gerechte Gesellschaft auf Unwissenheit und Lügen aufbauen“, so Julian Assange. (…)
Die Antwort des sogenannten „Wertewestens“ auf die bahnbrechenden WikiLeaks-Veröffentlichungen waren 14 Jahre politischer Verfolgung – eineinhalb Jahre Hausarrest im Osten Englands, knapp sieben Jahre willkürlicher Gefangenschaft in der ecuadorianischen Botschaft in London, über fünf Jahre im schlimmsten Gefängnis Großbritanniens – das alles unter Folterbedingungen, dokumentiert vom UN-Sonderberichterstatter über Folter (2016 bis 2022), Professor Nils Melzer.
Die Bevölkerungen der ganzen Welt reagierten grundlegend anders. Eine weltweite, starke, laute, beharrliche Solidaritätsbewegung wuchs und wuchs und ließ nicht locker – und Julian Assange kam frei – nach 14 langen, bitteren Jahren.
Wir kämpfen weiter – um Begnadigung
Familie von Julian Assange will Gerechtigkeit
Gabriel Shipton, Bruder von Julian Assange, bedankte sich in einer Videobotschaft für die Auszeichnung mit dem „Blue Planet Award 2024“ und die Solidarität:
Im Namen meines Bruders, Julian Assange, möchte ich unsere tiefe Dankbarkeit gegenüber der ethecon-Stiftung, die Julian diesen Preis verliehen hat, zum Ausdruck bringen.
Es ist für unsere Familie eine wunderbare Zeit, in der wir Julian nach einem so langen Weg, einem so langen Kampf endlich wieder zu Hause bei uns in Australien haben. Er kann jetzt Zeit mit seinen Kindern, seinen fünf und sieben Jahre alten Söhnen Max und Gabriel, verbringen. Er spielt auch mit unseren australischen einheimischen Tieren draußen im Busch. Er hat wirklich Kontakt zur Natur und zu seiner Familie und all den Dingen, die ihm so lange vorenthalten wurden. (…)
Ich möchte ein wenig auf Julians Engagement eingehen. Es war sehr, sehr groß. 14 Jahre lang wurde er seiner Freiheit beraubt, sieben Jahre in der ecuadorianischen Botschaft, fünf Jahre in einem Hochsicherheitsgefängnis. Er hat endlose oder viele, viele Jahre psychologischer Folter ertragen, die ihn ziemlich gezeichnet haben. Und ich denke, dass wir alle – die ganze Welt – Julian für seine Arbeit, mit der er Verbrechen aufgedeckt hat, zu großem Dank verpflichtet sind. Diese Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die Korruption, die es auf der ganzen Welt gibt, und die Menschen, die diese Verbrechen begehen – sie müssen nun zweimal darüber nachdenken, ob sie es tun. Sie müssen darüber nachdenken, weil sie eines Tages entlarvt werden könnten und es Konsequenzen für das geben kann, was sie begangen haben.
Unser Kampf um Gerechtigkeit für Julian geht weiter. Wir drängen jetzt sowohl Präsident Biden als auch den wieder gewählten Präsidenten Trump, Julian zu begnadigen. Das würde eine klare Botschaft aussenden, dass Journalismus kein Verbrechen ist, und es würde die Verurteilung rückgängig machen, für die Julian sich schuldig bekennen musste, um seine Freiheit zu erhalten. Deshalb ist es so wichtig, dass wir diese Begnadigung erreichen und diesen schrecklichen Präzedenzfall, der in diesem Fall geschaffen wurde, rückgängig machen. Ich fordere Sie alle auf, auf pardonassange.org zu gehen, Ihren Namen einzutragen und den offenen Brief an den noch amtierenden Präsident Biden zu unterzeichnen.
Vielleicht bewirkt das nicht viel, aber es bewirkt immer etwas. Wir haben festgestellt, insbesondere im Kampf um Julians Freilassung, dass es diese kleinen Aktionen sind, die sich summieren und die einen großen Unterschied machen. In diesem Sinne möchte ich allen danken, die auf kleine oder große Weise zu Julians Freiheit beigetragen haben. Denn es brauchte viele, viele Tausende, Hunderttausende von Menschen, viele Millionen Dollar, Arbeitsstunden, Stunden über Stunden, Anwälte, Politiker, Staatsoberhäupter auf der ganzen Welt, um Julians Freiheit zu sichern. Und es war eine riesige Anstrengung von allen. Ein herzliches Dankeschön von mir und meiner Familie, und ein Dankeschön an ethecon für diesen wunderbaren Preis für Julian.