Im „Fall Lisa Murnau“ betreten 1971 Sigrid Göhler und Peter Borgelt zum ersten mal einen Tatort im „Polizeiruf 110“. Als Oberleutnant Peter Fuchs und Leutnant Vera Arndt gehören sie zur „Zentralen Fahndungsgruppe der Volkspolizei“. Sie ermitteln DDR-weit, vorwiegend in ländlichen Gegenden in Fällen von Einbruch, Erpressung, Betrug, Diebstahl oder Jugendkriminalität. Bald kommen auch Themen wie Alkoholismus, Kindesmissbrauch und Vergewaltigung dazu. Mord ist eher selten dabei.
Es gab gute Gründe für eine neue Krimireihe im DFF (Deutscher Fernsehfunk). Im Frühjahr 1971 forderte der neue Staatsratsvorsitzende „unterhaltsamere und spannendere Programmangebote“. Und die ARD hatte im November 1970 mit dem „Tatort“ vorgelegt. Eine hausgemachte Alternative fürs eigene Publikum musste her. So gesehen ist der Polizeiruf 110 ein Kind Erich Honeckers und der ARD.
Fuchs und Arndt bekommen im Laufe der Zeit Verstärkung. Ausgesprochen korrekt, dabei stets freundlich, manche väterlich, andere einfühlsam, versehen sie ihren Dienst. Vorbilder eben, die die Täter immer ihrer gerechten Strafe zuführen, sie aber nicht verdammen. Ab 1984 gab Andreas Schmidt-Schaller dann den Leutnant Thomas Grawe als „Schimanski des Ostens“. 1988 ergänzte Günter Naumann als Hauptmann Beck das Team. Er ist der einzige, der auch in der ARD, dann als Hauptkommissar weiter im „Polizeiruf“ ermitteln darf. Bis er 1997 in den unfreiwilligen Ruhestand versetzt wird.
Anders als beim eingestellten Vorgänger liegen die Ursachen der Kriminalität im „Polizeiruf 110“ nicht im Westen. „Blaulicht“ war ein Kind des Kalten Krieges, Agenten, Schieber, Schmuggler aus dem Westen versuchten ihre Geschäfte auch in der DDR auszudehnen. Im „Polizeiruf 110“ geht es nicht mehr um grenzüberschreitende Delikte, sondern um die kleinen und großen Straftaten von DDR-Bürgern. Eberhard Görner, Dramaturg und Autor beim DFF wollte Kriminalfälle, die die Gesellschaft durchleuchten wie ein Röntgenbild. „Der Zuschauer sollte eine Realität sehen, die mit seiner identisch war“.
Polizeiruf-Folgen sind bis heute meist ausgezeichnete Milieustudien. Für gelernte Westler wie mich sind sie eine prima Möglichkeit, Lebensumstände und Alltag der Menschen dort kennenzulernen. Klar, aus heutiger Sicht wirken frühere „Polizeiruf 110“ Folgen behäbig, betulich. Aber sind es die alten Tatorte“ etwa nicht? Erinnert sich jemand an Veigl, den Kommissar mit dem Dackel, den mürrischen Trimmel, den biederen Schwaben Bienzle. In Sachen Emanzipation war der Ostkrimi dem des Westen jedenfalls um Längen voraus. Sigrid Göhler ging als Leutnant Vera Arndt schon 1971 ihrem Beruf nach, Hauptkommissarin Marianne Buchmüller, gespielt von Nicole Heesters, bekam in der ARD erst 1978 ihre Chance. Begleitet durch einen wütenden Aufschrei erzkonservativer Herren in bayerischen Revieren und der bürgerlichen Presse.
Heutzutage hat jede Serie ihren Chat. Ganz analog gab es ähnliches schon beim „Polizeiruf“. Die Fernsehleute erhielten haufenweise Zuschriften, Zuschauer erhofften sich Rat und Hilfe, in Betrieben oder Schulen wurde mit den Machern über die Fälle diskutiert. Und da ist noch ein erstklassiger Anlass, sich die frühen „Polizeiruf-Folgen anzusehen. Immer wieder denkst du dabei „die/den kenn‘ ich doch“. Ja, nur älter. Es sind die jungen Gesichter von Schauspielern, die auch nach dem Beitritt der DDR zur BRD gefragt waren und sind. Carmen-Maja Antoni, Annekathrin Bürger, Corinna Harfouch, Renate Krößner, Dagmar Manzel, Rolf Hoppe, Henry Hübchen, Uwe Kockisch, Horst Krause, Ulrich Mühe. Große Mimen, die zu Stars der deutschen Film- und Fernsehszene wurden.
Der „Polizeiruf 110“ war der Exportschlager des DDR-Fernsehens. Auch die ARD kaufte schon damals Folgen für ihre Dritten Programme, wo sie fast so erfolgreich waren wie Tatort-Wiederholungen. Und er hat als einzige Sendereihe, außer dem Sandmännchen, das Ende der DDR und ihres Fernsehfunks überlebt. Weil diese Rechte immer noch da sind, haben wir derzeit das Vergnügen, uns von DDR-Fernsehkost blendend unterhalten lassen zu können.