Was ist revolutionäre Produktivkraftentwicklung?

Gegen die Lähmung von Wissen und Können

Kurz nach 1900 sitzen zwei hochrangige Schergen des Zaren in eine Theaterloge und unterhalten sich über einen polizeibekannten Techniker, der gerade im Saal Platz nimmt, nämlich den „Ingenieur Leonid Krassin, Leiter des Bibi-Ejbatskaja-Elektrizitätswerks“. Der sei, zischen die beiden, in seiner Jugend frech gewesen und „bestraft worden, zu seinem Glück streng bestraft. Und bitte, er hat abgelassen von dem Sozialismuswahn und ist Leiter der größten Baustelle im Gouvernement geworden. Sie hätten mal sehen sollen, wie der gearbeitet hat – wie ein Amerikaner!“

Die Stelle steht im Roman „Die Liebe zur Elektrizität“ aus dem Jahr 1971, Deutsch 1973 in der DDR erschienen. Verfasser ist der sowjetische Schriftsteller Wassili Axjonow, der mit diesem Werk alle Hoffnungen bestätigte, die sein frühes Schaffen geweckt hatte. In der späten Breschnew-Zeit setzte er sich allerdings in die USA ab und geriet dort (wie in Europa und überall sonst) zum Lohn für seine mühevolle literarische Ausarbeitung persönlicher Enttäuschungserfahrungen mit dem Sozialismus in Vergessenheit.

Nur sein Roman „Die Insel Krim“ aus dem Jahr 1979 findet neuerdings gelegentlich Erwähnung, weil er in diesem spekulativen Buch die Krim mit einem Science-Fiction-Dreh als geographisch vom Rest der jungen Sowjetunion abgetrenntes Gebiet fantasiert, das im Bürgerkrieg an die Konterrevolution gefallen ist, nach dem Willen der dortigen Bevölkerung und mithilfe der Roten Armee aber schließlich doch nicht im obskuren Taiwan-Status verbleibt, sondern Teil der Union wird.

Der Krim-Text ist, von heute her gelesen, ein Exempel unabsichtlicher historischer Ironie, während das ältere Buch „Die Liebe zur Elektrizität“ klug und klar die Widersprüche des Gewesenen in Bewegung bringt.

Zum Beispiel ist der Mann, den die beiden Zarenknechte an der zitierten Stelle für einen mittels Repression dressierten Intelligenzler halten, in Wahrheit alles andere, nämlich glühender Sozialist, den man im revolutionären Untergrund jener Jahre als „Nikititsch“ kennt und den Lenin gern „das Pferd“ nennt, weil er ihn als starkes Zugtier der Bewegung schätzt. Unter anderem leitet Nikititsch Chemiekommandos, die „Mazedonierinnen“ herstellen, nützliche Handbomben für den Barrikadenkampf (aber niemals für den individuellen Terror).

Sein von den Henkern im Theater erwähntes Wirken im Elektrizitätswerk und später als Leiter des Kabelnetzes der „Elektrischen Gesellschaft 1886“ hat seine sozialistischen Umtriebe also nicht, wie jene denken, ersetzt und überschrieben. Dieses Wirken ist aber auch nicht bloß Tarnung für den Revolutionär, sondern eine Form der Vorbereitung darauf, dass die Revolution in einen sozialistischen Aufbau führen soll.

So etwas braucht nämlich Leute, die wissen, was Produktivkräfte sind, was Verwissenschaftlichung der Erzeugung ist und wie man beides in der Praxis mit einer radikalen Transformation von Produktionsverhältnissen vermittelt.Nach der Niederlage von 1905 ging der tatsächliche Krassin 1908 nach Deutschland, wo er in Berlin bei Siemens angestellt wurde. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg kehrte er nach Russland zurück, um die dortigen Siemens-Niederlassungen zu leiten, bewährte sich aber im Anlauf zum Jahr 1917 immer wieder auch als Bolschewik, von der Herausgebertätigkeit für Parteiorgane bis zur Organisation unbürokratischer Enteignungen.

Nach der Oktoberrevolution diente er dem neuen Staat als Volkskommissar für Handel und Industrie, später für Außenhandel. In beiden Funktionen kam ihm (und der Sache) das technische Wissen seiner „elektrischen Jahre“ sehr zustatten.

Wer gern schematisch denkt, könnte aus Krassins Leben und Wirken wie aus der romangeeigneten Beschaffenheit seiner Mehrfachbegabung als Techniker und Revolutionär den Schluss ziehen, die kommunistische Weltbewegung müsse sich heute vor allem dafür ins Zeug legen, genügend fähige Kommunistinnen und Kommunisten bei den Gangstern von Google und Microsoft, Pfizer und Monsanto einzuschleusen, sie wenigstens aber an nicht direkt von Konzernen und Monopolen regierten Forschungsstätten für künstliche Intelligenz und Robotik installieren: bei den deutschen Helmholtz-Leuten und Max-Planck-Einrichtungen, am Imperial College in London, am HHMI Janelia Research Campus in den USA, an der Uni von Edinburgh oder der von Tokio.

Darauf, dass an Chinas Tsinghua-Universität bereits ein paar Kommunistinnen und Kommunisten ihre Programme schreiben und Automaten entwerfen, darf man wetten.

Damit jedoch wären die Parallelen zwischen Krassins Weg und den Erfordernissen revolutionärer Aktivität heute nicht tief genug gezogen und verstanden.

Will man da weiterkommen, sollte man sich eine andere Stelle in Axjonows Roman genau anschauen. Zwei Brüder aus gutem Hause, beide vom autokratischen Regime in Richtung Klassenverrat gedrängt, diskutieren Unrecht, Muff und Stagnation im Reich, da bricht einer der beiden in den Ruf aus: „Ich will bauen! Nicht so wie Großvater, nicht für den Geldsack, sondern für Russland. Verstehst du? Wir haben schon jetzt das längste Eisenbahnnetz der Welt. Ist das vielleicht nichts? Aber, Pawel, welche Rückständigkeit im Maschinenbau! Was wir alles bauen müssen!“

Denn der Zar baut bloß, was auch im Imperialismus 2023 am allerliebsten gebaut wird: Scheiße.

Das lässt sich, was wissenschaftlich-technischen Fortschritt betrifft, sogar beziffern: Eine (gemessen am Ernst ihres Zentralbefunds viel zu wenig beachtete) im Januar 2023 publizierte sozialwissenschaftliche Studie von Michael Park, Erin Leahey und Russel J. Funk (abrufbar unter: kurzelinks.de/naturestudie) zeigt, dass der Anteil „disruptiver“ Arbeiten und Patente auf dem Weltmarkt der Ideen fortwährend abnimmt, wobei „disruptiv“ (also: „störend fürs bereits Vorhandene“) in diesem Kontext einfach das bezeichnet, was die Werbung der Monopole „innovativ“ nennt. Sofern man Mühe hat, sich vorzustellen, was das sein soll: Gemeint sind Überraschungen wie John Scott Russells Erstbeobachtung eines Solitons 1834, Hermann Staudingers Gründungsdokument der Polymerwissenschaft 1920, Alexander Flemings Entdeckung des Penicilins 1928, Francis Cricks von Rosalind Franklin ermöglichtes Modell der Desoxyribonukleinsäure 1953 oder Daniel Shechtmans Entdeckung der Quasikristalle 1982.

„Jetzt lebt wohl, Maschinen, Generatoren, Batterien.
Bald werde ich mit Elektrizität anderer Art zu tun bekommen.“

Leonid Krassin in „Die Liebe zur Elektrizität“

Marx stimmt Adam Smith bekanntlich in der Feststellung zu, dass Sklaverei die Produktivität versaut, weil Versklavte mit Arbeitszeug berechtigterweise nachlässig umgehen und ihr Hirn beim Rackern sparsam einsetzen, weil Denken bei der Arbeit ihre Lage nicht verbessert. Im „Manifest der Kommunistischen Partei“ steht ferner, dass der Kapitalismus zur Proletarisierung selbst der geschicktesten Köpfer neigt („Mann der Wissenschaft“, gilt auch für Frauen). Die ökonomische Analyse im „Kapital“ ergänzt diesen Befund um den Nachweis, dass der Unterschied zwischen Sklaverei und Lohnarbeit allenfalls in konkurrenzkapitalistischer Zeit, bei breiter Eigentumsstreuung und relativer sozialer Mobilität, mehr ist als eine raffinierte Formalie, die „flexiblere“ Arbeit ermöglicht als der nackte Menschenbesitz.

So setzt der Kapitalismus also zunächst historisch enorme Prodkutivkraft frei, läuft aber darauf hinaus, sie wieder unter sich zu begraben. In der Forschung heißt das heute „betriebswirtschaftlicher rechnen beim Forschen“, „Drittmittelabhängigkeit“, „Lieber einen dem Monopolstaat gefälligen Antrag stellen als einen disruptiven“ und so weiter.

Wie, außer vermittels des Sozialismus, soll sich organisierte menschliche Neugier von dieser Verkalkung befreien?

Der Sozialismus, den Marx, Engels und Lenin entworfen und angeschoben haben, ist indes kein Menü, bei dem man sich wie an einer Mix-and-Match-Steakhaus-Tafel bedienen kann. Tut man das doch, zerfällt er schnell in Sekten, die je ein Element der komplexen Sache fetischisieren: Die einen sind vernarrt in die Planwirtschaft, die andern in die Demokratie, wieder andere ins Parteiwesen oder in die polytechnische Bildung, eine vierte Schule feiert jeden Schritt hin zur Aufhebung der Arbeitsteilung und eine fünfte betet die im Sozialismus wenigstens tendenziell mögliche Befreiung der Wissenschaft und der Kunst von sachfremden Kennziffernvorgaben, nicht nur denen des Profits, aus vollem Herzen an.

Der von Marx, Engels und Lenin projektierte Sozialismus ist jedoch ein materiell-funktionales Ganzes, an dessen Parametern man nicht ohne Risiko herumspielt – wer zum Beispiel die Demokratie für einen Selbstzweck hält, wird der Planwirtschaft immer da in den Rücken fallen, wo ein Plan, einmal gefasst, stracks befolgt werden muss, was ein wenigstens zeitweiliges Aussetzen der permanenten Diskussion verlangt, die eine verabsolutierte Demokratie kennzeichnen würde.

Wer wiederum den Plan zum Götzen machen will, sollte hin und wieder die demokratische Kontrolle zu spüren kriegen, sonst werden im instrumentellen Rausch gleich die nächsten fünf Milliarden Jahre bis zum Verlöschen der Sonne durchgeplant.

Die Momente des Ensembles sozialistischer Produktionsverhältnisse müssen in einem delikaten Fließgleichgewicht gehalten werden. An sich gleicht jede Gesamtheit von Erzeugungskräften einer gegebenen Produktionsweise ja einer beliebigen Maschine (vom Dampfdingsbums bis zum Computer) darin, dass sie nie hundertprozentig effektiv funktionieren kann und folglich ihr Wirkungsgrad, also derjenige Anteil der ihr zugeführten Energie, der tatsächlich in die Sorte Gebrauchswert umgewandelt wird, die man haben will, sich in dem Maß verschlechtert, in welchem sie unter anderem zwangsläufig Entropie mitproduziert. Die erforderliche Balance jeweils zu rekalibrieren braucht Zeit, und von der Hand in den Mund geht’s gar nicht.

Sozialistische Produktionsverhältnisse sollen die Naturvoraussetzungen der Arbeit (mit Marx: „den Arbeiter und die Erde“) nicht ausbeuten bis zur Vernutzung, also müssen sie sogar ein paar mehr Faktoren gegeneinander ausbalancieren als eine auf Gewalt und Kahlfraß gegründete Wirtschaftsweise, die solche Größen wie Demokratie, Muße, Schönheit oder intakte Umwelt im Interesse der Ausbeuterklasse brutal ignoriert oder gar aktiv zertritt.

Marx wusste sehr genau, warum er den sozialdemokratischen Spatzenhirnen einen strengen Verweis erteilte, die ins Gothaer Programm schrieben, die Arbeit allein sei die Quelle allen Reichtums, als gäbe es keine Natur und als hätte diese keine Gesetze, vom Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik bis zum Verhältnis zwischen Information und Rauschen bei der Signalübertragung.

Ein Staat, der sozialistische Prinzipien umzusetzen versucht, mag diese Prinzipien in schlechten Phasen so verwaschen auffassen wie eine sozialdemokratische Regierung in einer bürgerlichen Demokratie, er wird, wie diese, um die beschriebene Balance-Arbeit niemals herumkommen. Drückt er sich davor, dann geht er unter.

Daher ist zum Beispiel eine systematische Erfassung von Ungleichgewichtsstellen im Balance-Ganzen für ihn unerlässlich. Deshalb interessiert man sich zum Beispiel in China für die ungleichen Zugänge der eigenen Bevölkerung zum Elektrizitätsnetz im Lichte der Frage, ob die Verwirklichung ernsthafter Luftreinhaltungspolitik ab 2013 diese Ungleichheit vergrößert hat. Das sind konkrete Probleme, eng angeschlossen etwa daran, dass die chinesische Regierung beispielsweise Situationen nicht akzeptieren darf, in denen, sagen wir, ein chinesischer Durchschnittshaushalt 5 Prozent für Energie ausgibt, ein vergleichbarer US-amerikanischer aber nur 3,5 Prozent.

Derlei Dialektik zwischen einerseits Umwelt- und andererseits Gerechtigkeitserwägungen ist durch Datenarbeit im Sinne des Maschinellen Lernens sehr viel präziser zu fassen als bisher (wie Erhebungen in ausgerechnet Uganda belegen; kurzelinks.de/natureuganda), also will auch das studiert sein.

Wann immer sozialdemokratische und sozialistische Regierungen die Jagdhunde privater Aneignung loslassen, müssen sie scharf aufpassen, denn diese Hunde beißen und können solche Regierungen sogar fressen. Aber indem sie dem Profit nachhetzen, treiben diese Hunde andererseits die Produktivität gelegentlich über das Niveau hinaus, auf dem sie sich einpendeln würde, wenn es nur um die Befriedigung von natürlichen wie gesellschaftlich erzeugten Bedürfnissen ginge (das ist einer der Hintergründe etwa von Lenins NÖP).

Wer die zweifellos hässlichen Hunde aber ganz loswerden will, muss die Produktivkräfte entwickeln, um Ressourcen zu erschließen, die sowohl auf natürliche wie menschengemachte Engpässe zu reagieren erlauben.

Insgesamt gilt, dass man begreifen muss, was je wann verlangt ist, wie eine der gescheitesten Stellen in Axjonows Krassin-Roman veranschaulicht – da verabschiedet Krassin sich vorübergehend von seiner Ingenieurstätigkeit, denn die Revolution braucht ihn: „Jetzt lebt wohl, Maschinen, Generatoren, Batterien. Bald werde ich mit Elektrizität anderer Art zu tun bekommen.“

So ist es: Nicht nur der Aufbau fordert Energie, sondern auch die Zerschlagung des Falschen.

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"Gegen die Lähmung von Wissen und Können", UZ vom 26. Mai 2023



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